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John Burnside: In hellen Sommernächsten

In hellen Sommernächsten

von John Burnside
Verlag: Albrecht Knaus Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-8135-0460-6

Preis: 7,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 19. März 2024]
Unerklärliche Todesfälle

Man durfte gespannt sein, welchem Thema in welcher Form sich John Burnside nach seinem fulminant erzählten, autobiographischem und emotional düster-mitreißendem "Lügen über meinen Vater" und dem verstörenden Roman "Gilster" zuwenden würde. Ganz anders nun zunächst, soweit kann man zunächst sagen. Und doch sich treu bleibend in seiner Kunst, in bildkräftiger Sprache emotionale Vieldeutigkeiten des Lebens in ein verstörendes Portrait zu bannen.

Im hohen Norden Norwegens, auf einer Insel am Polarkreis, siedelt Burnside seine Geschichte an und diese Geographie "am Rande der Welt", in einer (überragend geschilderten) Landschaft wie direkt altnordischen Sagen entnommen, ist wichtig für das Verständnis. Ein abgeschnittenes Stück Welt, in dem die Uhren anders zu gehen scheinen, wie auch die Emotionen. Eine äußere Abgeschnittenheit, die sich im Lauf des Romans auch innerlich in Figuren spiegeln wird. Hier wartet die junge Liv, die mit ihrer Mutter, einer Künstlerin, auf der Insel lebt, auf die Ergebnisse ihrer Schulabschlussprüfungen. Und nun sterben junge Männer.

Zuerst Mats. Einfach so. Nimmt (scheinbar) das Boot des Nachbarn, fährt (scheinbar) aufs ruhige Meer hinaus und wird tot wieder angespült. Zuletzt hatte Liv Mats mit dessen jüngerem Bruder Harald in Begleitung einer Mitschülerin, Maia gesehen. Eine Art des Umgangs lag zwischen diesen drei, die Liv ein mehr als nur Bekanntschaft ahnen lässt. Auch Harald stirbt. 10 Tage später. Mit genau dem gleichen Boot des Nachbarn war er ebenso aufs ruhige Meer hinaus gefahren und ist ertrunken.

Ereignisse, Todesfälle, die merkwürdigerweise gar keine große Aufregung bei den Bewohnern der Insel hervorrufen. Was Wunder, das Liv sich mehr und mehr von den alten Erzählungen des alten Kyrre einnehmen lässt. Hexenerzählungen, Geistergeschichten, Geschichten der "männermordenden Huldra". Und da Liv mehr und mehr beginnt, diese "Geister", ansonsten für andere unsichtbare Wesen, zu sehen, zieht es sie immer mehr hinein in diese Zwischenwelt. Jenes geheimnisvolle Mädchen Maia, ist sie nicht einer jener "bösen Geister", eine "Huldra"? Doch nichts ist wirklich, wie es scheint. Vor allem nicht so, wie es Liv zunächst schildert. Selbst ihre Mutter, selbst das Verhältnis zwischen Liv und der Mutter, mehr und mehr zweifelt der Leser an all den Beschreibungen, die er durch Liv erfährt.

Und dennoch, bei allem Zweifel erhält auch Livs Sicht immer wieder neue Nahrung. Als ein Fremder mit Geheimnissen in ihre Nähe zieht. Heimlich enttarnt sie den Mann als Pädophilen und alsbald taucht auch Maia wieder auf. An der Seite des neuen Nachbarn, der in Livs Augen damit das nächste Opfer der Huldra sein dürfte. Und dass sie selbst, als einzige, die der Huldra so eng auf den Fersen ist, ebenfalls ihres Lebens nicht mehr sicher sein dürfte.

Was wirkt, wie eine Kriminal-Gespenstergeschichte, bei der Leser bis zuletzt zu harren hat, wieweit übersinnliche Phänomene sich in realitätskonforme Abläufe hinein doch noch auflösen, spielt Burnside in hervorragender, bildkräftiger und tief reichender Sprache mit den Grenzen dieser Realität, mit vermeintlichen Tatsachen zwischen Wahn und Fantasie. Ein Spiel der Worte und Ebenen, die im Lauf der Lektüre kaum noch etwas als gegeben stehen lassen. Sind überhaupt Männer zu Tode gekommen? In der einen Lesart natürlich, aber da gibt es ja noch ganz andere Geschichten im Buch, bei denen der Leser immer wieder vor die Wahl gestellt wird, welchem Faden, welcher Lesart er sich anschließen kann und will. Widersprüche liegen vor, die nicht eine einzige komplexe Geschichte im Nachhinein ergeben werden, sondern den Leser zwingen, sich für eine der einander widersprechenden Ereignisketten zu entscheiden. Um sich damit doch dem Zentrum des Romans zu nähern.

Nur eine Konstante verbleibt im gesamten Buch und diese ist letztlich der einzige "Schlüssel", der den Zugang zum Buch und zur Annäherung an das, was die Wahrheit sein könnte, öffnet. Das Mädchen Liv in ihrer Geschichte. Eine, die in ihren Fantasien mehr und mehr untergeht (wie die jungen Männer in spiegelglatter See ertrunken sein sollen). Eine, bei der man lange brauchen wird, um zu verstehen, was wirklich "mütterlich" an ihr nagt.
Fazit
Bildkräftig, sprachgewaltig, mit einer Tiefe und Mehrdeutigkeit versehen die ihresgleichen sucht und dabei ein genauer Beobachter und Kenner der menschlichen Psyche in ihren noch so merkwürdigen Verästelungen, John Burnside versteht es, Meisterwerke zu schreiben. Jeder Schritt, jede Etappe des Buches, so verwirrend sie auch im ersten Anblick scheinen mag, ist durchdacht, gewollt und in hervorragender Sprache auf den Weg gebracht und alles zusammen ergibt das hoch differenzierte Bild einer Person, die droht, zu versinken, wenn sie nicht schon vorher versunken war.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne
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Vorgeschlagen von Lesefreund [Profil]
veröffentlicht am 12. März 2012

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