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Charlotte Link: Das Ende des Schweigens

Das Ende des Schweigens

von Charlotte Link
Verlag: Blanvalet Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-7645-0178-5

Preis: 16,90 Euro bei Amazon.de [Stand: 19. April 2024]
Charlotte Links Buch "Am Ende des Schweigens" gehört zu den Romanen, deren Lektüre man nur notgedrungen unterbricht. Selbst eine vierstündige Wartezeit beim Arzt war mir mit ihm diesmal nicht lästig, sondern sogar willkommen, und das will schon etwas heißen.

Stanbury, ein Dorf nahe der englischen Stadt Yorkshire, ist der Hauptschauplatz der Ereignisse. Dort verbringen alljährlich drei befreundete deutsche Ehepaare mit Kindern ihren Urlaub, von denen einer Grundstück und Haus in romantischer Landschaft gehört. Nach außen hin sieht es so aus, als ob die seit Jahrzehnten währende Freundschaft zwischen diesen neun Menschen auf einer unzerstörbaren Harmonie gegründet ist, aber der Schein trügt. Jeder spürt auf seine Weise, daß da etwas nicht stimmt, aber niemand außer Ricarda, einer der Töchter, und ihrer Stiefmutter Jessica wagen es, dieses Unbehagen auszusprechen. Die Vorgängerin an der Seite ihres Ehemannes hatte sich schon deswegen scheiden lassen, weil sie die auf rätselhafte Art belastenden Beziehungen in der Gruppe nicht mehr hatte ertragen können. Dieses Miteinander erscheint auch Jessica bedrückend zwanghaft und verlogen, die ganze scheinbar so idyllische Atmosphäre wirkt in ihrer eigenartig lauernden Stille bedrohlich. Sie gewinnt immer mehr den Eindruck, daß Alexander, ihr Mann, sich der Gruppe mehr verpflichtet fühlt als ihr, und sie fürchtet, daß es ihr wie seiner ersten Frau ergehen könnte, die er dieser Freunde wegen hatte fallen lassen. Als er derentwegen schließlich sogar das Vertrauen und die Liebe seiner Tochter verspielt, beabsichtigt sie endgültig, auf eine Klärung dieser rätselhaften und unnatürlich anmutenden Bindungen zu dringen.
Sie kommt allerdings nicht mehr dazu, denn es geschieht völlig unerwartet ein fürchterliches Verbrechen in dem Haus von Stanbury, dem auch Alexander und fünf weitere Personen zum Opfer fallen. Es gibt nur drei Überlebende, zu ihnen gehören auch Jessica und ihre Stieftochter Ricarda. Durch diesen grausamen Massenmord, dessen Urheber lange unbekannt bleibt, wird gleichsam wie eine Lawine eine Entwicklung ausgelöst, die nach und nach all die Verstrickungen aufdeckt, die zwischen den einzelnen Personen existiert haben. Das verworrene Geflecht von Schuld wird allmählich bloßgelegt, das diese Menschen aneinander gebunden und zum Schweigen verdammt hatte; die weit in der Vergangenheit zurückliegende Wurzel des Verschworenseins der drei Männer wird offenbar, und all die Geheimnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten klären sich auf, die über den Personen der Handlung ebenso spannungsvoll lagen wie über dem Leser. Die Übriggebliebenen werden mit ihrer ganz persönlichen Wahrheit konfrontiert, und das Ende des Schweigens wird zugleich zum Anfang des Redens, zum Beginn ihrer Befreiung und eines neuen Weges.

Es gelingt der Erzählerin in hervorragender Weise, mit sprachlichen Mitteln die extreme Unterschiedlichkeit und auch die Entwicklung der Hauptfiguren herauszuarbeiten. Als ganz besonders gelungen empfinde ich die Charakterisierung der Ricarda, die in den dazwischengeschobenen Tagebucheintragungen sehr überzeugend in der Denk- und Gefühlswelt eines fünfzehnjährigen Mädchens lebt und deren Sprachstil schreibt. Er unterscheidet sich deutlich von den verschiedenen Ausdrucksweisen der anderen Personen, die allein schon an ihrer Sprechweise zu erkennen sind. Auch eingefügte Texte psychologischer Beobachtungen einer der handelnden Figuren treffen genau den wissenschaftlichen Stil und sagen zudem sehr viel über die Persönlichkeit des Schreibers aus. Diese meisterhafte Sprachbeherrschung ist eine der Stärken der Autorin. Eine andere besteht in der Fähigkeit, Menschen mit ihrem Denken und Tun, ihrem Erleben und Verhalten zu erklären. So kommt zu ihrem großen Erzähltalent noch die Spannung, die aus der psychologischen Tiefe des Erzählten erwächst. Diese ist es vor allem, die weit mehr als nur einen reinen Kriminalroman entstehen läßt.

Die in Wiesbaden lebende Autorin Charlotte Link, geboren 1963, hat sich in den letzten Jahren zu einer der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen entwickelt. Ihre letzten Romane ("Die Täuschung", "Die Rosenzüchterin", "Der Verehrer", "Das Haus der Schwestern" und die Trilogie "Sturmzeit") beweisen eine beachtliche Vielseitigkeit ihres Talents: Vom psychologisch-tiefgründigen über den intelligent-spannenden Kriminalroman bis zum großen Familien- und Gesellschaftsroman beherrscht sie alle Genres der epischen Literatur. Ihre Bücher existieren bereits in mehreren Sprachen, ihre verfilmten Romane "Sturmzeit" und "Die Täuschung" waren große Publikumserfolge.

Der über 600 Seiten umfassende Roman verfügt über eine klare, übersichtliche Gliederung und bleibt trotz mehreren Nebenhandlungen und Rückblenden immer als Ganzes verständlich. Die einzelnen anfangs und später begonnenen Handlungsstränge fügen sich nacheinander zu einer stimmigen Komposition zusammen. Das Buch besteht aus vier Teilen mit jeweils ein bis drei Dutzend Kapiteln. Jeder Teil, dem immer ein Prolog vorangestellt ist, behandelt einen relativ in sich abgeschlossenen Zeitabschnitt des streng chronologischen Ablaufs vom 12. April bis zum 27. Mai eines nicht näher bestimmten Jahres in der Gegenwart. Während dieser sieben Wochen vollzieht sich die gesamte minutiös beschriebene Handlung. Diese epische Breite wird aber nie langweilig, die Leselust läßt an keiner Stelle nach, die Spannung bleibt bis zur letzten Seite erhalten.
Fazit
Diese Lektüre bedeutete für mich einen tagelangen großen Lesegenuß. Wer an guter Literatur interessiert ist, die nicht nur den nach oberflächlicher Unterhaltung suchenden Leser anspricht, sondern auch geistige und ästhetische Ansprüche auf hohem Niveau erfüllt, dem kann ich dieses Buch sehr empfehlen.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne
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Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner [Profil]
veröffentlicht am 29. Dezember 2003

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