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Wladimir Kaminer: Frühstück am Rande der Apokalypse

Frühstück am Rande der Apokalypse

von Wladimir Kaminer
Verlag: Wunderraum [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-442-31711-0

Preis: 21,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 26. April 2024]
Zwischen existenziellen Krisen und den Verzweiflungen des Alltags

Es gibt diese untersuchte Haltung, dass den Menschen zwar Leid anrührt, dann vor allem aber, wenn es persönlich, direkt und ungefiltert vor ihm steht. Die massenweisen Krisen und dramatischen Schicksale, von denen die täglichen Nachrichten inzwischen seit Jahren bereits gefüllt sind, führen demgegenüber zu einem eher merkwürdigen Zustande. Auf der einen Seite der Information und der Realisierung, dass anscheinend die Welt an zig Orten untergeht und dies mittel ungefilterter und oft grausamer Bilder auch klar vor Augen gestellt wird, täglich.

Und der Herausforderung, ganz einfach den eigenen Alltag zu bewältigen. Wobei Kaminer in seiner immer leichten bis mittleren, humorvollen Art und Weise, beides wunderbar vor Augen zu setzten versteht und, vor allem, das eine nicht gegen das andere ausspielt, sondern am Ende die inneliegende Reibung zwischen "allgemeinen" und zentralen Wichtigkeiten des Planeten und je Teilen der Menschheit an Orten massiver Krisen und den ganz persönlichen "Wichtigkeiten" im Alltag, in der Familie, im Umfeld, bei der Arbeit und an allen möglichen anderen Orten einander beleuchtend in den Raum der Seiten stellt. Und das natürlich auf der Blaupause des Krieges in der Ukraine, der Entwicklung der russischen Gesellschaft und der "Gewöhnung", die allenthalben selbst bei drastischen Ereignissen den Alltag mehr bestimmt auf Strecke als die Gräuel der Welt.

Eine Lebenssituation, die in der Gegenwart auf die Spitze getrieben erscheint. Selten, außer zu umfassenden Kriegszeiten, waren die Probleme der Gesellschaften zu greifbar, von Naturkatastrophen, kippenden Klima, brutalem Krieg und inneren Bedrohungen mannigfaltiger Arten getrieben. Und ist eben, wie zu allen Zeiten, der "ganz normale" tägliche Aufgabenberg ja auch zu bewältigen. Von digitalen Problemen, entleerten Handys, missliebigen Kollegen oder Nachbarn bis hin zur lieben Familie mit ihren vorhandenen Animositäten und Empfindlichkeiten.

Und immer wieder überschneidet sich all dies im eigenen Erleben. Wie bei jenem Lehrer ("ein Mann mit weißem Bart, der nicht in Rente gehen wollte"), der eines Tages seiner ersten Klasse der Grundschule mal politische Information nahezubringen gedachte. Was trotz rascher interner Beilegung natürlich weite Kreise zog, befeuert durch die Interessen der verschiedenen Parteiungen. "Die Russophobie ist auf dem Vormarsch". Was umgehend die Schwiegermutter des Autors aus dem Nordkaukasus auf den Plan rief.

Und auch innerfamiliäre Schlichtungen, die es doch ein Leben lang getan haben ("Ein gutes Frühstück lässt alle Albträume vergessen") funktioniert nicht mehr so einfach, wie noch vor einigen Jahren. Dazu ist die Lage da draußen dann doch wieder zu ernst. Meint "Mama".

"Hierzulande hat man sich schon immer gerne mehr über das gesorgt, was kommen konnte als über das, was gerade war".

Und wenn eine Sorge über das, was ist, mal sehr berechtigt wäre, dann geht dies leicht unter im Taumel zigfacher Aufregungen, die von morgens bis abends durch den Äther laufen und wenig Unterscheidung darin in sich tragen, ob nun tatsächlich die persönliche Welt aktuell bedroht ist oder eben eher nicht. Während man dringend das Ladekabel für das Handy immer noch am Suchen ist.

Dabei verballhornt Kaminer das alles ja nicht, sondern findet feine Wege, Übertreibungen zu entlarven, das menschliche Wesen, was sich immer selbst am nächsten ist in seinen Dringlichkeiten vor Augen zu stellen und dennoch immer wieder die "allgemeine Lage" in eine erläuternde Verbindung zu all dem Alltag zu stellen. Denn am Ende kommt die allgemein Lage aus den vielen Alltäglichkeiten der Menschen und ihrer ruhelosen Aufregung um alles, was persönlich belästigen oder gefährden könnte.

"Denn wie Wirklichkeit war bitter. Der Tod macht keine Mittagspause"- vor allem nicht im Krieg. Dazu aber ist zu betrachten: "Den ganzen Sommer diskutierten wir beim Aperol Spritz mit kompostierbaren nachhaltigen Biostrohhalmen, die sich im Glas nach drei Minuten auflösten, woran wir letztendlich zu Grunde gehen würden" - was für ein in sich paradoxes, aber äußerst treffendes Sprach-Bild.
Fazit
So führt die Lektüre am Ende auch dazu, in ironischer Überspitzung Lesern und Leserinnen vor Augen zu führen, dass die eigenen Wichtigkeiten und lautstarken Meinungen nicht unbedingt Lösungen für die großen Probleme enthalten. Und man diese nicht zur Seite schieben sollte. Es gibt tatsächlich Wichtigeres.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne
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Vorgeschlagen von Lesefreund [Profil]
veröffentlicht am 09. Oktober 2023

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