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Jamie Jan Kochai: 99 Nächte in Logar

99 Nächte in Logar

von Jamie Jan Kochai
Verlag: btb Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-442-77045-8

Preis: 12,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 17. April 2024]
Jugendlicher sein im Afghanistan der Gegenwart

Aus der Ferne weiß man nicht allzugleich aus dem Inneren von Land und Kultur. Taliban. Krieg. Russland über Jahre im Land, amerikanische Truppen nach 2001, Terror, Zerstörung von Kunstwerken der Menschheit, NATO Einsatz, all diese Stichworte ergeben ein Bild eines zerrissenen, armen, gebeutelten Landes, das irgendwie "rückständig" zu sein scheint.

Das aber Menschen unter erschwerten Umständen auch "ganz normal" ihren Alltag leben, dass eine lange Kulturgeschichte, auch Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung in Afghanistan möglich wären, das fällt in der öffentlichen Berichterstattung ein stückweise unter den Tisch. Afghanistan im Inneren besteht nicht nur, aber eben auch, aus Warlords und dem ständigen Ringen um die eigene Macht und den eigenen Vorteil.

Das ist die Atmosphäre, in der Marwand, 12 Jahre alt, gewitzt, mit Sehnsucht ausgestattet, seinen Weg sucht und mit seinen Freunden zur Jagd aufbricht. Und das ist nicht unbedingt ein Jagdausflug unter Hobby-Jägern, sondern notwendig, einerseits, aber auch ein Abenteuer guter Freunde, andererseits. Denn was die Menschen in Afghanistan als eine der Grundlagen des Lebens betrachten und leben ist die Gemeinschaft. Ohne einander zu helfen und beizustehen würde keiner für sich alleine in all den Einschränkungen und Gefahren gut durchkommen.

"Agha hatte sein eigenes Anwesen…..Der Großteil seiner Familie war jedoch im Krieg geflohen oder umgekommen und sein Anwesen war voller ferner Verwandter, denen er nicht wirklich traute".

Das ist eben die andere Seite der Medaille. Wo man einander braucht, und den Alltag in unsicheren Zeiten zu bestehen, da muss man auch aufpassen, dass man nicht "über den Tisch gezogen" wird oder dem Feind angedient für mögliche Vorteile anderer. Und dennoch setzt sich die kindliche Lust am Leben, am Abenteuer, die emotionalen Aufregungen in Marwands und seiner Freunde leben durch. Intensiv und atemlos folgt man den Beschreibungen der Jagd, dem Erleben der Jungen.

"Ich versteckte mich noch zwischen den Büschen und Feldern und versuchte verzweifelt die Scheiße aus meinen Kleidern zu reiben".

Gelegenheit auch, und das sind teils die eigentlichen Einblicke in die Seele des Landes, sich Geschichten zu erzählen. Die weniger poetisch als in "1001 Nacht" des Weges daherkommen, aber sehr praktisch und griffig das Befinden der Menschen auf den Punkt bringen. "Die Geschichte der Geschichte von Marena und dem Scheisse fressenden Dschinn" ist so eine Geschichte in der Geschichte, mittels derer Kochai den Leser vertraut macht mit dem Leben und den Sehnsüchten in Afghanistan. Oder die "Geschichte vom alten Hund", die Marwand mit Schmerz und einem fehlenden Körperteil zurückgelassen hat.

99 Nächte sind es, die auf die Tage der Jagd folgen, in denen Geschichten aus dem Leben und aus Wunschträumen und der Realität gefärbt sich finden. Inmitten einer Vielzahl von Figuren (bei denen man durchaus leicht, gerade zu Anfang, den Überblick verlieren kann) und Orten und Ereignissen, die nicht immer faszinieren, aber im Gesamten doch ein stimmiges Bild vom Aufwachsen in Afghanistan erzeugen. Inmitten von Krieg, Bomben, Misstrauen und drohender Gewalt bewahren sich de Jugendlichen ihre Fantasie, haben ganz handfeste Träume ("Erzähl mir eine Geschichte aus Amerika") und lernen von früh an, dass man als Mensch immer "Teil der anderen" ist. Im Guten wie im Schlechten.

Dass Kochai gerade nach dem temporeichen Beginn und vor dem anregenden Finale nicht immer Spannung erzeugt in den vielen Geschichten, die einander erzählt werden und das ganze auch hier und da dazu drängt, einige Seiten einfach zu überschlagen, das erschwert die Lektüre aber doch auch. Zu ausschweifend und zu sehr verliebt in das ein oder andere Motiv einer Geschichte lässt die Spannung teils zu sehr abflauen.
Fazit
Dennoch. Im Gesamten, eine empfehlenswerte Lektüre, weil Kochai immer wieder die Augen öffnet und wichtige Momente Afghanistans nachvollziehbar und packend darstellt.
7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne

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Vorgeschlagen von Lesefreund [Profil]
veröffentlicht am 16. März 2021

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