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André Kubiczek: Komm in den totgesagten Park und schau

Komm in den totgesagten Park und schau

von André Kubiczek
Verlag: Rowohlt Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-87134-179-3

Preis: 22,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 25. April 2024]
Felix und sein Vater stecken gemeinsam im Schlamassel, haben sich in ein winziges Arbeiterhäuschen im überfrorenen Niemandsland irgendwo in Böhmen abgesetzt. Ihre Unterkunft ist ein Weberhäuschen direkt an einer Straße; Eisblumen wachsen an den Fenstern. Im Haus scheint es nicht viel mehr zu geben als einen Manuskriptstapel, auf dessen Rückseite der Neunzehnjährige mit Bleistift an seine Jugendfreundin Nina schreibt. Von einer dritten Person ist zunächst unklar, welche Rolle sie spielt – sind Vater und Sohn von dem Mann entführt worden, der sich so schwer beherrschen kann? Der Icherzähler Felix zumindest fühlt sich wie ein Gefangener, er musste sein Handy abliefern – und schreibt sein Leben nieder. Als die Eltern sich trennten, zog Felix' Mutter mit ihm und seiner Schwester aus Berlin fort, der Kontakt zum Vater riss ab. Schon Felix‘ Großeltern tourten als freiwillige Helfer durch Länder der Dritten Welt und auch seine Mutter häuft erfolgreich Sozialprestige durch Wohltätigkeit an. Alles Hassenswerte in Felix‘ derzeitigem Leben sieht er vereint in seiner Schwester Laura, Einser-Abiturientin, Tierrechts-Aktivistin und Jurastudentin in Berlin. Aus Rache an seiner komplizierten Familie ist Felix zum Leser geworden; er gräbt sich durch die Bücherkisten seines Professorenvaters, die seine Mutter aus Rache zurückbehielt. Felix Clique sympathisiert mit Autonomen. Dass er als verwöhntes Bürgersöhnchen dadurch in Schwierigkeiten gerät, wundert nicht.

Die zweite Erzählerstimme gehört Vater Marek, einem Berliner Akademiker in Warteschleife, dessen Bewerbungen auf diverse Professuren stets erfolglos blieben. Genderdiskussion und Post-Irgendwas laufen an Marek vorbei, er steckt noch immer fest in seinem Thema DDR-Lyrik. Marek schreibt für Felix. Aufgrund seiner DDR-Sozialisierung pflegt Marek ein spezielles Verhältnis zu Behörden, die Bürger früher zur Klärung von "Sachverhalten" herbeizitierten. Beim Sachverhalt, der Marek offenbar in den derzeitigen Schlamassel gebracht hat, handelt es sich um die Töchter seiner Lebensgefährtin Adriana, für die sich das Jugendamt interessiert und deren Existenz Adriana streckenweise zu vergessen scheint.

Mit Fokus auf Veit Stark, Mareks ehemaligem Lieblingsstudenten aus Cottbus, kommt eine weitere Person ins Spiel. Veits Eltern im tiefen Osten haben unter allen nervigen Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung zu leiden und verwahrlosen aus seiner Sicht seit der Wende zusehends. Cottbuss als Parallelgesellschaft Ost mit No-Go-Areas, dem Sumpf von veralteten Melderegistern und Menschen, die untertauchen, scheint mitten aus einem postapokalyptischen Roman zu stammen. Doch was hier wie postapokalyptischer Zerfall wirkt, ist für Rettungskräfte und Bahnangestellte auch im Westen inzwischen längst Realität geworden. Dass Veit dort mit einer afroamerikanischen, gendersensiblen Studentin auftaucht, lässt Schlimmes befürchten. Veits politische Aktivitäten scheinen einen Bogen zu schlagen zu Felix hochbrisanten Jugendstreichen.
Fazit
Drei Männer im Nirgendwo im Kampf gegen verhasste Behörden könnte man das Ganze nennen. Kubiczek kombiniert Postapokalypse, Road-Movie und Spurensuche seiner Figuren in Deutschlands fernem Osten zu einem anfangs verwirrenden Stück mit drei Hauptfiguren. Darin spöttelt er über Politkasten, die wie zu DDR-Zeiten abgehoben in Gated Communities leben, Selbstbespiegelung im Genderwahn und den neuen Mann. Mit Campen am Stausee in Spremberg sorgt der Autor für eine Prise Ost-Nostalgie. Felix‘ Manuskript schließlich mit seinen durchgestrichenen Passagen stellt die Einschätzung des Romans noch einmal auf den Kopf: Auf eine spontane Version, über deren Wirkung auf Nina Felix offenbar erst im Schreibprozess nachdenkt, folgt an einigen Stellen ein zweiter, geglätteter Absatz, der das Gegenteil des ersten behaupten kann. So entstehen Schwarz und Weiß, Wunsch und Wirklichkeit, zwei Hälften eines Ganzen. Fantastik, Postapokalypse? – ganz wie Sie wollen.
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 21. Februar 2018

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