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Ingrid Müller-Münch: Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

von Ingrid Müller-Münch
Verlag: Klett-Cotta Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-608-94680-2

Preis: 20,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Gestrige Erziehungsweisen, Ursachen und ihre Folgen

Es ist noch nicht allzu lange her (auch wenn es vorsintflutlich erscheint), da gehörte der Rohrstock, der Gürtel, die flache Hand zur Kindererziehung ganz selbstverständlich dazu. Nicht nur im Elternhaus, auch in den Schulen und anderen Orten öffentlichen Lebens (die Diskussion um "Erziehungsformen" in katholischen Kirchen, neben dem sexuellen Missbrauch, zeigen auf, wie selbstverständlich und verbreitet es war, dass ein Kind letztlich "Nichts" war). Ganz öffentlich an diesen Orten bis weit in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Dass das Kind "pariert" war (fast) einhellig und breit vorherrschendes "Grunderziehungsziel", zumindest der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. An nicht wenigen Orten, liest man die Berichte mancher Jugendämter, hält sich dies um Übrigen im heimischen Bereich bis heute, nicht nur in speziellen Migrationsfamilien.

Ingrid Müller-Münch versteht es, gerade auf ihre ihr eigene unprätentiöse und dennoch eindeutig parteiische Art, diese Form der "Erziehung" für die nun dem Ruhestand entgegengehende Generation endlich einmal sachlich und präzise zu beschreiben und aufzuzeigen. Dem Geschehen eine "Sprache zu geben". Und die nachfolgende Frage zu stellen und zu beantworten: Was diese rüden Methoden bewirkten, wie es den später Erwachsenen mit dieser Art des Aufwachsens erging. Ganz hervorragend arbeitet die Autorin auf diesem Weg heraus, dass vor allem Gefühle von Angst und Einsamkeit, von einem "sich nicht (wirklich) angenommen" wissen mit geprägt haben.

"Zu meiner Kindheit gehörte der Kochlöffel. Nicht als Küchenutensil, sondern als Schlaginstrument". Wobei in vielen Familien diese "Strafe" noch gesteigert und herausgezögert wurde durch jenen wohlbekannten Satz: "Warte, bis Dein Vater nach Hause kommt". Väter als "Familienoberhaupt" und damit als jene, die in der Regel die Strafe zu vollziehen hatten. Aber auch Mütter oder ältere Geschwister waren an dieser "Grunderziehung" beteiligt. Mit Folgen. "Irgendwie war dieser Vertrauensbruch meiner Eltern, den ich bei jeder Tracht Prügel empfand, nie mehr aus meinem Leben wegzudenken".

Es ist gut, noch einmal, trotz der inzwischen vielen vergangenen Jahre und der doch im allgemeinen zumindest offiziell anderen Form der Erziehung, die mittlerweile herrscht, dass Ingrid Müller-Münch die Dinge thematisiert, die sie, wie fast alle anderen, bis dato nie wirklich angesprochen und ausgesprochen haben. Gut vor allem, dass dies mit Sensibilität und nicht marktschreierisch geschieht, dass eine Beschreibung und der Versuch, zu verstehen im Mittelpunkt des Buches stehen. Gut auch, dass die Autorin durchaus vielfach persönliches mit einfließen lässt und zudem die Linie nach hinten verlängert, einen Blick auf die Kriegsgenerationen und deren Prägung ermöglicht, welche den Rohrstock fast logischerweise nach sich zogen.

Mit einem Grundgefühl dann vielleicht leben zu müssen, wie es im Buch auch beschrieben wird: "Keiner sieht mich, keiner mag mich, ich bin böse, ich bin ein Nichts". Erfahrungen vor allem der Ohnmacht, die so manche Aggressivität, die ein vielfaches Auflehnen dieser Generation gegen dumpfe Autoritäten tief verständlich macht, gegen "Muff und Mief" laut zu Felde ziehen. Ein hochinteressantes Kapitel ist es, in dem Müller-Münch jenen Wurzeln der "68er" auf ihre Art nachgeht und überzeugende Schlüsse aus den Prügeln der Kinderjahre dieser Generation zieht.
Fazit
Nach der Lektüre des Buches und dem Gang durch alle Schichten und alle Formen von körperlicher Bestrafung kann man der Autorin nur uneingeschränkt zustimmen, die das "Prügeln von Kindern zu Anschlägen gegen die Menschlichkeit" deklariert. Etwas, was so manche Soziologen und kirchliche Würdenträger bis jetzt noch nicht wirklich verstanden zu haben scheinen. Und es stimmt, womit die Autorin endet: "Noch ist es nicht vorbei". Und darum ist das Buch wichtig (und zudem gut zu lesen).
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Lesefreund [Profil]
veröffentlicht am 23. März 2012

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