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Michael Göring: Der Seiltänzer

Der Seiltänzer

von Michael Göring
Verlag: Hoffmann und Campe [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-455-40099-1

Preis: 16,95 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Ein mutiges Plädoyer für eine andere katholische Kirche

Andreas Wingert ist Priester, fast 50 Jahre alt. Durchaus mit Leib und Seele. Vor allem aber auch Mensch, zutiefst erschrocken über die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche. Und ein Priester, der bei diesem Erschrecken nicht stehen bleiben will. So macht er sich auf und macht sich stark für eine Reform der katholischen Kirche vor allem im Bereich der verknöcherten, verhärteten, dogmatischen, gnadenlosen Sexuallehre. Eine Kritik auch, die gefüllt ist durch sein eigenes Leben, seine eigenen Widersprüche. Und er tut dies öffentlich und muss nicht lange auf eine Reaktion der "anderen Seite" warten, Dies aber kommt anders, als der dachte und sich erhofft hätte.

"Vielleicht würde es keine Geburtstagsfeier geben, wenn diese verrückten Missbrauchsvorwürfe der Wahnmut erst einmal in die Welt getragen wären."
Denn er selbst sieht sich zweideutigen Gerüchten plötzlich gegenüber. Gerüchten um "unsittliche Annäherungen an einen Messdiener". Und dies just in der Folge einer seiner Predigten, in denen er Farbe bekannt, die Forderung nach Veränderungen stellt. Und nun feststellen muss, dass in einer Zeit, in der sich ein Verdacht fast umgehend in ein Urteil verwandelt, es schwer ist, dagegen zu halten.

Sein einziger wirklicher Bezugspunkt, sein Freund Thomas, droht zudem noch, ihm abhanden zu kommen. Herzinfarkt, Intensivstation Uniklinik Münster.

Auf zwei Zeitebenen nun folgt Michael Göring in wunderbar gesetzter Sprache dem Lebensweg des Andreas Wingert. Zum einen in der Gegenwart, in seinem Kampf um seinen Ruf und um eine Notwendigkeit der Änderung in seiner Kirche und zum zweiten in der Vergangenheit, indem Göring den gemeinsamen Weg seines Protagonisten mit dessen Freund Thomas erinnert. Gerade diese zweite Zeitschiene ist der eigentliche Schwerpunkt des Romans. Einer, der durchaus seine Zweifel hat. Der durchaus den Zölibat nicht wirklich zu leben vermag (eine heimliche Geliebte des Priesters steht im Raum). Behutsam und emotional tief reichend entblättert Göring den Lebensweg, die Prägungen, die Persönlichkeit des Priesters Andreas und setzt ein überaus gelungenes Portrait eines zutiefst menschlichen Mannes und Priesters in den Raum. Eines Menschen, in dem sich eine tiefe spirituelle Persönlichkeit ebenso im Lauf der Jahre entwickelt hat wie eine (offiziell oft zu verbergende) Lebenslust und Lebenszugewandtheit. Ein Mensch, der eigentlich ganz normal und ganz bei sich heranreift und ob der rigiden Regeln der Kirche einen Teil seiner inneren Welt, seiner Befindlichkeit, lernen muss, zu verbergen.

An diesem Punkt treffen sich die beiden Zeitebenen und reicht die Person Andreas Wingert im Roman über sich hinaus. Wie Entwicklungen ins Heimliche gedrängt werden, die in sich doch ganz folgerichtig und "menschlich" sein könnten, wie durch diese Verdrängung in Heimliche hinein auch ganz andere Persönlichkeitsstrukturen ihr zweischneidiges Spiel leben können (hier Priester, dort Päderast zum Beispiel), das erschließt sich quasi "von Innen" her durch die Lektüre des Buches in durchaus sensibler Weise.

Eine Lebensreflektion, die Göring im Buch dialogisch aufarbeitet und dabei ohne erhobenen Zeigefinger den Finger immer wieder ganz einfach auf eine vorhandene Wunde des katholischen Klerus legt. Dass sicher nicht nur beim Protagonisten im Buch die eigentliche Lebensweise, gerade was den sexuellen Bereich angeht, nicht in Übereinstimmung mit der offiziellen Lesart steht. Weder was den Zölibat, noch was Homosexualität, noch was Sexualität an sich angeht.

Aus dieser Spannung innerhalb der Person des Andreas Wingert heraus ergibt sich im Buch dieses mit hinein nehmende Element. Beide Seiten haben eben ihre Wurzeln und Berechtigungen in der Person des Priesters. Die spirituelle, der Amtskirche zugeneigte, dort eine Heimat sich schaffende Seite und die andere, lebenslustige, emotionsreiche und auch privat leben wollende Seite.

Eie Seite, die Andreas durchaus auslebt und nun auch versucht, diese innere Spannung im Umfeld der Missbrauchfälle mutig zu thematisieren und eine Öffnung für diese Themen ins seiner Kirche zu erreichen. Und auf ein Wegweichen trifft, auf eine Wand, durch die er scheints nicht durchdringen wird, er, der immer Priester und Mensch war und sein wollte und dies, wenn überhaupt, letztlich nur heimlich sein durfte und darf. Keine Frage, dass man das Buch kaum aus der Hand zu legen vermag, bis sich am Ende hin klärt, welchen Weg Andreas für sich finden wird und welchen Umgang die Menschen seiner Gemeinde, seine Kirche und "die Gesellschaft" mit ihm und seiner Angreifbarkeit finden wird.
Fazit
Michael Göring ist ein sprachlich hervorragendes und emotional tiefes Buch gelungen, in dem er nicht einfach die katholische Kirche an den Pranger stellt, sondern eine zutiefst menschliche Entwicklung im Rahmen dieser Kirche vor Augen führt, die als eigene Person letztlich kaum mit und kaum ohne diese Kirche sich selbst gemäß zu leben vermag. Ein schmaler Grat, den Andreas zu leben versucht und den Göring präzise darstellt. Ein Versuch, dem das Titelbild des einsamen Mannes auf dem Steg hervorragend gegenüber korrespondiert. Einer, dessen "Lebensnetz", dessen "äußere Heimat" droht, verloren zu gehen, Eine sehr empfehlenswerte Lektüre, nicht nur für Kirchenkritiker.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Lesefreund [Profil]
veröffentlicht am 09. November 2011

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