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Joyce Carol Oates: Geheimnisse

Geheimnisse

von Joyce Carol Oates (Biografie)
Verlag: S. Fischer [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-10-054008-9

Preis: 5,17 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Der Heimweg am Kanal entlang war für Rebecca der einzige Moment am Tag, den sie für sich hatte. Unaufmerksamkeit bei ihrer Arbeit in der Fabrik könnte sie ein paar Finger kosten und am Abend war Rebecca meist schon zu erschöpft, um ihren temperamentvollen kleinen Sohn Niley ins Bett zu bringen. Heute hat Rebecca das Gefühl, bedroht und verfolgt zu werden. Tatsächlich wird sie höflich von einem gut gekleideten Mann angesprochen, der Rebecca für eine ganz andere Frau hält, für Hazel Jones. Auf den wenigen Seiten des Prologs zieht Joyce Carol Oates ihre Leser in eine düstere Atmosphäre, der man sich in der folgenden Handlung nicht mehr entziehen kann.

Aus dem Jahr 1959, als viele Amerikaner wie Rebecca glaubten, nur als Übergang in der Fabrik zu arbeiten, blendet Oates im zweiten Teil des Buches dreizehn Jahre zurück in Rebeccas Kindheit. Die Familie Schwart war aus Deutschland emigriert, der Vater fand Arbeit als Totengräber in Milburn, südlich des Ontario-Sees. Mit ihren drei Kindern lebten die Schwarts unter einfachsten Verhältnissen in einem einfachen kleinen Steinhaus auf dem Friedhof. Rebeccas Mutter, die die Flucht aus Deutschland und Rebeccas Geburt unter dramatischen Umständen nie bewältigt hat, ist offenbar schwer psychisch krank. Vater Jakob Schwart, der damals in Deutschland u. a. Mathematik unterrichtet hatte, steigert sich schon bald in eine Außenseiterrolle hinein. Er fühlt sich von Feinden umgeben, verhindert jeden Kontakt seiner Familie mit anderen Menschen. Schwart ist unberechenbar, gewalttätig, so dass seine Kinder früh lernen, ihm aus dem Weg zu gehen und ihm zu verheimlichen, was ihn aufregen könnte. In der Abgeschlossenheit dieser Familie lernen Rebeccas Brüder kaum Englisch, der ältere scheitert in der Schule, der jüngere ist dem Vater zu schmächtig, nur die bereits in den USA geboren Rebecca nimmt eine Sonderrolle ein.

Noch vor ihrem 18. Geburtstag gelingt es Rebecca sich von den bedrückenden Verhältnissen zu befreien. Sie findet Arbeit, lernt den charmanten Niles kennen, der beinahe doppelt so alt ist wie sie. Wir sind zurück im Jahr 1959, in wenigen Worten entsteht ein deprimierendes Bild der jungen Ehe. Rebecca will ihren Mann mit dem Kind verlassen. Doch einen Mann, der so leicht zu beleidigen ist wie Niles, verlässt eine Frau nicht ungestraft. Wenn Rebecca ihren Frieden finden will, muss sie alle Brücken hinter sich abbrechen, damit Niles sie nicht über den gesamten amerikanischen Kontinent verfolgen kann. Der dritte Abschnitt des Buches folgt Rebecca und ihrem Sohn Niles junior während der folgenden zwanzig Jahre. Ein letztes Kapitel nimmt noch einmal die Frage auf, ob jemand wie Rebecca sich von den schrecklichen Erlebnissen ihrer Kindheit und dem Einfluss eines gewalttätigen Ehemanns befreien kann, ob es möglich ist sein altes Leben abzuschütteln und noch einmal ganz neu zu beginnen.

Die bedrohliche Situation, die Rebecca auf dem Heimweg aus der Fabrik erlebt, hat mich vom ersten Moment an völlig in ihren Bann gezogen. Oates schafft in dieser alltäglichen Szene eine bedrückende Atmosphäre, die allein in Rebeccas Gedanken entsteht. Rebeccas Kindheit, geprägt von der selbst auferlegten Verpflichtung, die Mutter nicht mit dem gewalttätigen Vater allein lassen zu dürfen, beobachtet die Autorin sehr nüchtern, beinahe emotionslos. Jakob Schwart, seine Gewalttätigkeit und seine Unfähigkeit, sich in Frau und Kinder einzufühlen, schockieren. Man kann sich der Schilderung Rebeccas trostloser Kindheit keine Minute entziehen, möchte in allen Einzelheiten erfahren, ob Rebecca sich aus diesen Verhältnissen lösen kann und wie sie als Erwachsene in die Beziehung zu einem Mann geraten konnte, der in seinem Besitz- und Allmachtsanspruch Jakob Schwart so verblüffend ähnelt.
Fazit
Mit Leichtigkeit und Präzision lässt Joyce Carol Oates düstere, abstoßende Szenen vor den Augen ihrer Leser entstehen. Über die Grenzen von Kulturen und Epochen hinweg zeigt sie am Schicksal der Schwarts, wie es dazu kommen kann, dass Familien sich völlig von anderen Menschen abschließen und durch ihre Absonderung jede Hilfe von außen unmöglich machen. Ein berührender, vielschichtiger Roman, mit dem Oates ihre Fähigkeit, sich in schwierige Persönlichkeiten einzufühlen, zur Perfektion gebracht hat.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 29. Mai 2010

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