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Sebastian Haffner: Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg

Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg

von Sebastian Haffner
Verlag: Bastei Lübbe [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-7857-2077-6

Preis: 7,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 19. April 2024]
Der "Spiegel" hat in seinem Heft 8 vom 16. 02. 04 den "zweiten dreißigjährigen Krieg" von 1914 bis 1945 zum Thema gemacht. Anlässlich des 90. Jahrestages des ersten Weltkrieges, des ersten "totalen" Krieges in der Geschichte der Menschheit, werden zahlreiche Neuerscheinungen zu dem Thema angekündigt. Wer sich in Kürze über die Gründe und Ursachen zum ersten Weltkrieg informieren möchte, der sollte auf jeden Fall Sebastian Haffners Standardwerk aus dem Jahre 1964 zur Hand nehmen. Es ist bis heute nicht veraltet. Krieg und Niederlage, so Haffner, warnen kein "Schicksal". "Sie waren das Ergebnis falscher Einschätzungen, falscher Entscheidungen und falscher Maßnahmen deutscher Regierungen, die meist die Zustimmung der deutschen Öffentlichkeit hatten." (S. 8). Die Deutsche Reichsleitung hat gravierende Fehler gemacht, wie sie seit der sogenannten "Fischer-Kontroverse" seit 1961 (mit dem Erscheinen von Fritz Fischers: "Griff nach der Weltmacht", der dem Kaiserreich die Hauptschuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges gab) offenkundig geworden sind. Die wichtigsten Fehler, oder "Sünden" listet Haffner hier auf. Auf 136 Seiten schafft es Haffner, die wichtigsten Fehler des Kaiserreiches aufzulisten: Es sind dies aus Haffners Sicht: die Abkehr von Bismarcks gemäßigter Außenpolitik, der Schlieffenplan, der offenbarte, dass der deutsche Generalstab 1914 für einen europäischen Zweifrontenkrieg im Jahre 1914 keinen anderen Plan besaß, der im Osten die Defensive und notfalls den Rückzug vorsah, im Westen aber die Offensive zur schnellen Niederwerfung Frankreichs und zwar unter Verletzung der belgischen Neutralität. Diese Verletzung der belgischen Neutralität führte zum Kriegseintritt Englands. "Von dem Augenblick, wo die Sache von den Diplomaten und Politikern auf die Militärs überging, kam darum in das deutsche Verhalten ein ganz unbegreiflicher, radikaler Knick oder Bruch" (S.37). Als dritten Kardinalfehler des deutschen Reiches benennt Haffner die innenpolitische Festlegung auf einen Siegfrieden bei fehlender Siegesmöglichkeit. Dies habe jede sinnvolle deutsche Außenpolitik unmöglich gemacht (S. 56). Sie führte zur Festlegung der deutschen politischen und militärischen Führung, dass es weder in Belgien noch in Polen eine Rückkehr zur Vorkriegslage geben dürfe. Genau in dem Augenblick, in dem der amerikansiche Präsident Wilson für die Zeit nach seiner Wiederwahl im November 1916 eine Friedensvermittlung vorschlägt und in Rußland das Haupt der "Friedenspartei", Stürmer, Ministerpräsident wird, schafft Deutschland in Belgien und Polen vollendete Tatsachen: im Oktober 1916 werden 400 000 belgische Arbeiter für die deutsche Kriegsindustrie zwangsverpflichtet und nach Deutschland deportiert, am 5. November wird im von Deutschland besetzten Russisch-Polen das "Königreich Polen" proklamiert. Haffners Fazit: "es sind dies die beiden unverständlichsten Aktionen der deutschen Kriegspolitik" (S. 59). Offenbar wollten einige deutsche Politiker keine Friedensvermittlung haben, die ihnen keinen Siegfrieden hätte bringen können (S. 63). Die "Kriegspartei" in Deutschland wollte den "Totalsieg" (Haffner) und hegte zwei neue Pläne: den unbeschränkten U-Boot-Krieg gegen die USA, die zum Kriegseintritt der USA an der Seite Englands und Frankreichs führte (Todsünde Nr. 4) und die Unterstützung der russischen Revolution, um das Ausscheiden Russlands aus der Reihe der Kriegsgegner zu erreichen. Dies gelang zwar. Lenin kam mit deutscher Unterstützng an die Macht und schloss den Frieden von Brest-Litowsk. Dieser Frieden führte jedoch zur Konzentration wesentlicher deutscher Truppen auf russisches Gebiet. Sie fehlten bei der entscheidenden Schlacht im Westen ab März 1918 - insofern war Brest-Litowsk ein schwerer Fehler (Todsünde Nr.6), der den Krieg besiegelte, denn: "Nur knapp die Hälfte der im Osten entbehrlichen deutschen Truppen war im Winter 1917/18 in den Westen überführt worden." (S. 105). Warum war dies so: weil man der Verscuhung, sich im Osten in diesem Augenblick russischer Schwäche ein riesiges Imperium zusammenzuzimmern, nicht widerstehen konnte. (S. 106). Dies führte in die Niederlage. Der wirkliche "Dolchstoß" - so Haffner, Todsünde Nr. 7, war die Unfähigkeit der Verantwortlichen, die wahre Lage einzugestehen, sich im Mai 1918 aus Frankreich, Belgien und Luxenburg zurückzuziehen und die militärisch noch verbliebene Verteidigungskraft militärisch sparsam einzusetzen. Dies geschah nicht. Die deutsche Niederlage, so Haffner völlig korrekt, vollzog sich in drei deutlich voneinander abgesetzten Phasen. Die erste dauerte von April bis Juni 1918, in der zumindest die Masse des deutschen Volkes, nach Haffner auch der Feind, nicht wußte, was die Stunde geschlagen hatte (S. 124)"und die deutsche Führung, die es hätte wissen msssen, zog es vor, sich selbst zu belügen. Dies war die Zeit der unverzeilichen Unterlassungen." (S. 124). Die zweite Phase, von Mitte Juli bis Ende September, war die Zeit der duetschen militärischen Niederlagen. Die dritte Phase war die Verweigerung der bisher verantwortlichen Militärs um Ludendorff, die Niederlage zu tragen und die Reichsregierung bat, den amerikanischen Präsidenten um Vermittlung des Waffenstillstandes zu bitten. Haffner hat sich hiermit näher in seinem Buch: "Die deutsche Revolution 1918/19" auseinandergesetzt. Ludendorff gab die Verantwortung an die sogenannten "Friedensparteien" der späteren Weimarer Koalition ab. Somit wurden diese Parteien für die Niederlage verantwortlich gemacht. Sie, nicht die verantwortlichen Militärs, die Deutschland in den Krieg geführt hatten, mußten den Versailler Friedensvertrag unterzeichnen. Dieser war äußerst ungerecht und bahnte letztlich Hitler den Weg. Er legte damit den Keim zum neuen Weltkrieg, wie der "Spiegel" korrekt resumiert.
Haffners Verdienst ist es, diese Fehler des deutschen Reiches klar herausgearbeitet und sich auf das Wesentliche konzentriert zu haben. Überhaupt ist dies das Faszinierende an allen Haffnerschen Publikationen: dass er spannend schreibt und mit psychologischem Falkenblick das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt.
Fazit
Die Ursachen für die "Urkatastophe" (Hans-Ulrich Wehler), den ersten Weltkrieg auf deutscher Seite so prägnant geschildert zu haben, ist Haffner gelungen. Im Vorwort erklärt er: ""Aber die anderen waren auch nicht besser und haben auch ihre Fehler gemacht!" Wahrscheinlich, aber für den, der aus seinem eigenen Unglück lernen will, ziemlich uninteressant." (S. 9). Völlig richtig. Wer aus seinen Fehlern lernen will, muss diese kennen. Dazu trägt dieses Buch von Haffner bei. Es gehört zu den besten Büchern über Ursachen und Verlauf des ersten Weltkrieges, die ich kenne und dürfte trotz der Flut an Veröffentlichungen zu diesem Thema nach wie vor eines der Standardwerke zum ersten Weltkrieg bleiben.
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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 18. Februar 2004

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