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Alexander Jakowlew: Die Abgründe meines Jahrhunderts: eine Autobiographie

Die Abgründe meines Jahrhunderts: eine Autobiographie

von Alexander Jakowlew
Verlag: Faber und Faber [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Biografie
ISBN-13 978-3-936618-12-9

Preis: 10,45 Euro bei Amazon.de [Stand: 29. März 2024]
Wie kommt es, dass russische Memoiren so beeindrucken? Sie gehen buchstäblich ins "Herz". Elementare menschliche Fragen und Gefühle, zu denen Russen fähig sind, werden immer wieder aufgeworfen. Zuletzt konnte ich das an den Memoiren Daniil Granins: "Das Jahrhundert der Angst" beobachten. Die alleszerfressende Angst, die der totalitäre russische Staat seinen Bürgern versetzte, die zum Zerfall konventioneller Moralstrukturen (so Tim Guldiman) führte, kann an solchen Memoiren genauestens beobachtet werden.
Mit Daniil Granin eng befreundet ist der Autor der vorliegenden Memoiren. Alexander Jakowlew war der "Vater der Perestroika", der "Ideengeber" Gorbatschows, eine Persönlichkeit von ungewöhnlichem geistigen Format. Im Dezember 2003 80 geworden, blickt der durch den zweiten Weltkrieg geprägte Mann, der nach dem Studium der Pädagogik im Apparat der KPdSU bis zum späteren Redenschreiber für die Parteichefs Chruschtschow und Breschnjew aufsteigt, dann wegen unkonventioneller Ansichten 1973 als Botschafter nach Kanada abgeschoben wird, auf sein Leben zurück. Nicht frei von Selbstmitleid, sind diese Memoiren eine Beichte - ein unheimlich beeindruckender Lebensbericht über Aufstieg und Fall des Kommunismus. Nicht erst Stalin, sondern Lenin wird als geistiger Verursacher der Tragödie des Kommunismus angesehen. Die Oktoberrevolution bezeichnet Jakowlew als Putsch, als Konterrevolution, auf der Lenin gewaltsam die Macht ergriffen habe. Beeindruckend ist, wie Jakowlew, der Zugang zu Originaldokumenten der Kreml-Administration hat und Herausgeber der Reihe: "Russland. 20. Jahrhundert, Dokumente" ist, mit der kommunistischen Vergangenheit des Landes abrechnet: "Ich schicke mich nicht an, das bittere Thema weiter zu vertiefen und zu fragen: Kto winowat? Wer ist schuld? Nach dem Sturm der Dokumente aus der Hinterlassenschaft der Bolschewiki hat sich mir diese Frage im Grundsatz geklärt und bis auf ihre schreckliche Nacktheit entblößt. Wir selbst sind schuld!...Wir waren es, die unseresgleichen ausrotteten und erschossen, Nachbarn und Kollegen denunzierten, bei Parteiversammlungen und dergleichen, in Zeitungen und Zeitschriften, Filmen und auf Theaterbühnen die ideologischen Scheusale entlarvten." Doch besonders Lenin habe den Terror zum Prinzip und zur Praxis bei der Durchsetzung der Macht erhoben: "Massenhafte Erschießungen und Folterungen, Geiselnahme und Konzentrationslager...gehörten von Anfang an zum Repertoire dieser Macht." Lenin verköprterte - so Jakowlew - den Inspirator und Organisator des Terrors in Russland - "er steht für alle Zeiten vor dem Tribunal "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". /S:39). In dieser Schärfe hat meines Wissens noch kein Spitzenpolitiker mit dem Gründer des russischen Kommunismus abgerechnet. Detailliert weist Jakowlew dessen Schuld an der Tötung der letzten Zarenfamilie nach. Seine Memoiren sind ein fesselndes Panorama der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. So empfindet Jakowlew Sympathie für die Premierminister Nikolaus des II., Segej Witte und Pjotr Stolypin. Dessen Ermordung 1911 bedauert er zutiefst: "Wie jeder Reformator wurde er gehasst, weil er es wagte, an den Interessen dahinsiechender ökonomischer Kräfte zu rütteln, die Rußlands Bewegung in eine gedeihliche Zukunft bremsten (S. 121). Der Lauf der Geschichte Russlands wurde durch dieses Attentat dramatisch gewendet. Das verknöcherte System wurde nicht reformiert, es kam zu der - vom Autor mit großer Sympathie betrachteten - Februarrevolution 1917 und dann zur Oktoberrevolution. Die Geschichte der russischen Revolutionen wird eindringlich und packend beschrieben, genau wie Kriegswirren und Stalinzeit. Jakowlew macht jedoch deutlich: der Terror begann bereits 1918, nicht erst unter Stalin. Dies beweist er anhand sowjetischer Archive, die wir bereits dank der Veröffentlichungen von Michail Voslensky: "Sterbliche Götter" und Dimitri Wolkogonows: "Die sieben Führer" kennen. In dieser Eindringlichkeit las ich sie jedoch zum ersten Mal. In seiner Düsterniss erinnern die Schilderungen jener Zeit an Rybakows: "Kinder vom Arbat", über dessen Publikation der Autor, wie er schreibt, zu entscheiden hatte. Er ließ es veröffentlichen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. Zwar war die Zeit Chruschtschows nach der Stalindiktatur eine Zeit der Hoffnungen, besonders nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, doch sind Jakowlews Erinnerungen an Chruschtschow zwiespältig: "Unter den Politkern des 20. Jahrhunderts fällt mir keine Persönlichkeit ein, die widersprüchlicher und mit einem dermaßen tragisch gespaltenen Bewusstsein ausgestattet gewesen wäre wie Nikita Chruschtschow." (S. 302). Chruschtschow sei ein Utopist gewesen und ein "gewaltiger Wirrkopf" (S. 355). Doch erst unter Breschnjew wird Jakowlew 1972 wegen eines unbotmäßigen Artikels 1972 als Botschafter nach Kanada abgeschoben.
Erst Gorbatschow holt 1983 unter Andropow Jakowlew nach Moskau zurück und macht ihn zu seinem engsten Berater. Das Gorbatschow-Portrait ähnelt dem vieler entschlossener Reformer: dessen Mut, die Reformen 1985 anzustoßen, wird gelobt, sein taktisches Bündnis mit den Reformgegnern 1990-1991 scharf kritisiert. "Gorbatschow gehört zu der Generation Sowjetmenschen, in deren Psychologie auf wundersame Weise Eigenschaften verschmolzen waren, die völlig entgegengesetzt waren: Idealismus und Alltagspragmatismus, offizieller Dogmatismus und praktische Zweifel, Glaube und Unglaube, ein kraftvoller, gesunder Zynismus." (S. 560). Gorbatschow sei jedoch auch mit "angeborenen oder erworbenen Mangeln im Charakter" behaftet und misstrauisch gewesen (S. 578/579)."Es mangelte ihm offensichtlich an Entschlossenheit, vor allem an der Entschiedenheit, sich selbst zu überwinden." (S. 584). Ein meines Erachtens zutreffendes, faszinierendes, sehr widersprüchliches Portrait seines Förderers, dessen Verdienste Jakowlew durchaus anerkennt und würdigt. Es handelt sich um eines der besten Charakterdarstellungen Gorbatschows, welches ich kenne. Jakowlew avanciert zum Chefarchitekten der Perestroika und vollzieht als Vorsitzender der Kommission politischer Repression die Rehabilitierung von Millionen von Opfern des Stalinismus. Wegen Meinungsverschiedenheiten über die Reformpolitik verliert er - noch unter Gorbatschow - seine Ämter. Jakowlew kritisiert Gorbatschows Annäherung an die Konservativen 1990/91. Da habe er die Eigenschaft, zuhören zu können verloren und sei den Einflüsterungen des KGB-Chefs Kruitschkows, eines der Drahtzieher des Putsches 1991, erlegen. Schließlich musste er die Macht im Dezember 1991 an Boris Jelzin abgeben, den er selber gefördert hatte. "Michail Sergejewitsch Gorbatschowwollte das Allerbeste für sein Land." Diese Bilanz zieht der Autor. Dies ist sicherlich korrekt. Doch ohne Jakowlew - so steht für mich nach der Lektüre dieser Erinnerungen fest - wäre es nie zu Glasnost und Perestroika und dem historischen Wandel der Sowjetunion nach 1985 gekommen. Darin liegt der Verdienst dieser grossen Persönlichkeit.
Fazit
Mich haben die vorliegenden Memoiren sehr beeindruckt. Ich habe viel über Rußland gelernt. Mögen diese Erinnerungen auch nicht frei von Selbstmitleid und Ich-Bezogenheit sein (auch ist durchaus ein Hang zu unbewiesenen Spekulationen (etwa über den Tod von Gorbatschows Vorgänger in Stawropol, Fjodor Kulakow) feststellbar), so sind diese Memoiren eine der besten, die ich je gelesen habe. Unbedingt empfehlenswert!
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne

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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 10. Februar 2004

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