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Antonia Michaelis: Der Märchenerzähler

Der Märchenerzähler

von Antonia Michaelis
Verlag: Oetinger Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Jugendroman
ISBN-13 978-3-7891-4289-5

Preis: 2,92 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Anna und Abel stehen kurz vor dem Abitur. Anna sagt von sich selbst, dass sie in einer Seifenblase lebt und von vielen Dingen nicht weiß, die alle anderen an der Schule wissen. Ob das Grund genug ist für die Naivität, mit der sie ihrem Klassenkameraden Abel gegenübertritt? Abel sticht in seinem Verhalten und seinem Äußeren deutlich ab von Gitta, Hennes und den anderen Mitschülern aus bürgerlichen Verhältnissen. Er lebt mit seiner sechsjährigen Schwester allein in einem Plattenbau am Rande von Greifswald. Seit die Mutter der Kinder verschwunden ist, wird es für Abel zunehmend komplizierter seine Schulpflichten und die Betreuung einer Erstklässlerin unter einen Hut zu bekommen. Abel will der misstrauischen Nachbarin möglichst wenig Anlass bieten, wegen der alleingelassenen Kinder das Jugend- und Sozialamt zu informieren. Abels einziger Verbündeter ist offenbar der Deutschlehrer, der ihn schon oft gedeckt hat; denn ihm liegt daran, dass der Junge seinen Schulabschluss schafft.

Die Geschichte der verschwundenen Mutter webt Abel für seine Schwester Micha in das Märchen von der Klippenkönigin, die auf ihrem grünen Schiff mit dem gelben Steuerrad von Insel zu Insel reist. Anna verfällt rettungslos Abels Talent als Märchenerzähler und verliebt sich in ihn. Micha, Anna und die Leser der Geschichte können aus den Märchensequenzen individuelle Botschaften für sich herauslesen. Auf einer dritten Handlungsebene wird ein geheimnisvoller Beobachter der Geschehnisse angedeutet, der sehr bedrohlich wirkt und auf dessen Eingreifen der Leser mit großer Spannung wartet. In einigen Szenen mag man seinem eigenen Urteil über die Figuren aufgrund ihrer changierenden Charakterzüge kaum glauben.

Antonia Michaelis verzaubert mit ihrem märchenhaften Roman Leserinnen aller Altersgruppen. Die Autorin erzählt diese ungewöhnliche Geschichte in unverwechselbarer Sprache; ihr sehr eigener Humor reißt beim Lesen einfach mit. Im Mittelpunkt der Geschichte stand für mich das Problem der Sozialwaisen, die sich äußerst listig staatlichen Hilfsmaßnahmen entziehen, weil sie nur in Schwarzweiß-Mustern zu denken gelernt haben. Abel verstrickt sich hoffnungslos in seinen Annahmen, Jugendliche hätten keine Rechte, Behörden kämen nur zum Kontrollieren und Sozialpädagogen würden Kinder "wegnehmen". Niemand aus dem Umfeld der Kinder scheint je von Notrufnummern des Kinderschutzbundes, Familienhelferinnen oder Pflegefamilien gehört zu haben, die kurzfristig ein Kind aufnehmen können. Selbst die kritische Stimme von Annas Freundin Gitta kann kaum zu Anna durchdringen. Die Klassengemeinschaft grenzt Abel aus und stellt sich als unfähig dar, Anna und Abel aus der Versponnenheit in ihre Dreiersymbiose mit Micha zu befreien. Das halbherzige Hilfsangebot von Annas Vater, der von Beruf Arzt ist, verkennt, dass Abel nicht allein Geld für den Lebensunterhalt braucht, sondern auch die kleine Micha eine zuverlässige Betreuung. Dass Anna aufgrund ihrer gutbürgerlichen Herkunft mit 18 so weltfremd ist, Abels starres Weltbild zu akzeptieren, mag ich noch hinnehmen. Dass jedoch keiner der beteiligten Erwachsenen dem Jungen alternative Hilfsangebote aufzeigt und dabei auf seine Angst vor dem Verlust der kleinen Schwester eingeht, halte ich für die Lesergruppe ab 14, an die sich das Buch richtet, für ein falsches Signal. Micha und Abel sind in ihrer Stadt sicher nicht die ersten Kinder, die plötzlich auf sich gestellt sind. Die Unfähigkeit aller Beteiligten, Hilfe anzunehmen oder sich über Hilfsangebote zu informieren, wirkt auf mich extrem klischeehaft. Gute Jugendliteratur dagegen soll Klischees bewusst machen, sie dazu aufbrechen und jugendlichen Lesern möglichst Handlungsalternativen aufzeigen. Weitere Kritikpunkte sind Annas passives Erleiden der Beziehung zu ihrem Outlaw und der Gewalt, die Abel ausübt. Denkfallen wie diese, wenn Frauen Gewalt ihrer Partner erdulden, weil sie den Täter als Opfer sehen, lassen Frauen immer wieder selbst Opfer von Gewalt in Beziehungen werden.
Fazit
Als sozialkritisches Buch für Erwachsene, das durch seine märchenhafte Sprache zum Lesen verführt und mit überraschenden Wendungen aufzuwarten hat, empfehle ich den Märchenerzähler gern. Wegen des Transports von Rollenklischees und der unkritischen Darstellung von Gewalt sollten Eltern den Roman möglichst selbst lesen, bevor sie ihn Vierzehnjährigen schenken.
6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 10. Dezember 2011

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