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Alice Greenway: Weisse Geister

Weisse Geister

von Alice Greenway
Verlag: mare [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-86648-101-5

Preis: 19,90 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Immer wenn Kate an ihre Kindheit in Hongkong dachte, zog die Fahrt mit der Dschunke zu einen einsamen Strand wie ein alter Film vor ihren Augen vorbei und sie erinnerte sich an das Schwimmen vom Boot aus. Kate und ihre ältere Schwester Frankie leben mit ihrer Mutter zur Zeit des Vietnamkriegs in Hongkong; der Vater der Kinder arbeitet als Kriegsberichterstatter für ein amerikanisches Magazin. Während die Mutter der Schwestern sich in der Welt der Kunst vor der Realität verschließt und ihrem Bild von sonntäglich gekleideten, perfekt frisierten kleinen Mädchen nachhängt, werden ihre Tochter vom chinesischen Kindermädchen Ah Bing erzogen. Ah Bing stammt aus der Volksrepublik China, alle ihre Verwandten leben auf dem Festland. In den Erzählungen Ah Bings klingt die Maozeit mit Hungersnöten und Angst vor der Gewalt der Roten Garden an. Weil ihre Eltern zu viele Töchter durchfüttern mussten, war Ah Bing an eine andere Familie gegeben worden, lief jedoch von dort fort. Die kleinen Mädchen aus Amerika sind für Ah Bing gwai mui - weiße Geistermädchen. Hongkong ist in den 60er Jahren kein ungefährlicher Ort, die chinesische Miliz überschreitet die Grenze bei der Verfolgung von vermeintlichen Staatsfeinden. Bei einer dieser Aktionen geraten Kate und Frankie in eine gefährliche Situation, über die sie mit niemandem zu sprechen wagen und die das Verhältnis der Schwestern zueinander ein Leben lang prägen wird.

Kate erinnert sich an die ungewöhnliche Lärmempfindlichkeit ihres Vaters, wenn er alle paar Wochen nach Hongkong zu Besuch kam. Er lag dann oft auf dem Boden des Kinderzimmers und erzählte Geschichten von Mao, von Dschingis Khan oder Marco Polo. Das Wort Danang, das in den Nachrichten immer wieder genannt wird, klang damals für Kate wie ein verzauberter Ort aus einem Märchen. Erst aus ihrer Perspektive als Erwachsene kann Kate die Nachrichten aus dem Vietnamkrieg einordnen und erst heute wird ihr klar, warum der Vater seinen Töchtern oft so unerreichbar schien. Damals ahnten die Töchter, dass sie Geschichten, die der Vater ihnen nicht erzählte, erst aufspüren mussten. Wenn ein Vater seine Töchter stärker liebte als das Land Vietnam, wäre er dann überhaupt in Vietnam?, fragten sich die Mädchen. Die nachdenkliche Kate überlegte schon damals, ob es nicht unfair sei, den Vater zu kritisieren.

Kates Mutter lebt in einer anderen Welt, in der keine toten Menschen aus der Volksrepublik China Toten im Fluss treiben. Über den alltäglichen Schrecken, den die Toten im Stadtbild verkörpern, wird nicht gesprochen, über den Schrecken des Krieges schon gar nicht. Kate interpretiert das distanzierte Verhalten ihrer Mutter, dass ihre Mutter sie nicht liebt. Man kann als Leser nur schwer nachvollziehen, warum die Mutter der Mädchen ihr Leben in der Sicherheit Hongkongs als schwerer empfand als das Leben ihres Mannes oder das ihrer Kinder. Hätte eine so naiv wirkende Frau, die sich nicht dafür interessiert, was ihre Kinder den Tag über tun, ihre Töchter zur damaligen Zeit überhaupt beschützen können? Als die aufdringliche, fordernde Art der heranwachsenden Frankie sich für alle deutlich wahrnehmbar zum Problem entwickelt, wird die Unangepasste ins Internat geschickt, um mehr "Struktur" zu erhalten, wie die Mutter es nennt. Nun sieht Kate sich nicht nur von zwei abwesenden Eltern vernachlässigt, sie fühlt sich von ihrer Schwester verraten. Wären sie zu zweit in Hongkong geblieben, hätten sie ihrer Ansicht nach die schwere Zeit gemeinsam ertragen. Durch die Begegnung mit Lewis, der für die Auflistung der Vietnam-Gefallenen zuständig war und traumatisiert in die USA zurückgeschickt wurde, werden Jahre später Kates Erlebnisse in Hongkong wieder lebendig.
Fazit
"Weisse Geister" wird alle Leser fesseln, die gern Kindheitserinnerungen lesen. Alice Greenway berührt besonders damit, dass man hinter ihrer kindlichen Erzählerin schon das sich entwickelnde Urteilsvermögen der erwachsenen Kate spürt, die die Ereignisse zur Zeit des Vietnamkriegs nun einordnen kann. Namen, mit denen Kate damals nicht verband, sind inzwischen feste Begriffe der Zeitgeschichte geworden. Die erwachsene Kate hat erfahren, wie Krieg und Traumatisierung auf Menschen wirken. Alice Greenway verbindet in ihrem melancholischen Roman meisterhaft die oft ungläubig gestellte Frage, warum Eltern über die Sorgen ihrer Kinder so wenig gewusst haben, mit einer stimmungsvollen Schilderung des Alltags in Hongkong. Die Gerüche auf den Märkten Hongkongs, das schmatzende Geräusch der Flipflops, das Klicken der Mahjong-Steine werden in ihrem Buch lebendig.
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 04. Juni 2010

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