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Peter van Gestel: Wintereis

Wintereis

von Peter van Gestel
Verlag: Beltz & Gelberg [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Jugendroman
ISBN-13 978-3-407-74163-9

Preis: 1,81 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebt in Amsterdam der 12-jährige Thomas allein mit seinem Vater; die Mutter ist vor kurzer Zeit gestorben. Der Winter 1949 ist so bitter kalt, dass Amsterdams Grachten zufrieren. Holz und Kohlen sind knapp und Lebensmittel kann jede Familie nur in festgelegten Mengen einkaufen, die ihr durch Lebensmittelmarken zugeteilt werden. Thomas Vater, ein Kritzler, ein Schriftsteller, hat nach dem Krieg noch keine Arbeit gefunden. Tante Fie, die Schwester der Mutter, hält Thomas Vater für einen Wirrkopf, dem sie nicht zutraut, seinen Sohn allein zu versorgen. Thomas ist verrückt nach seiner Klassenkameradin Liesje, doch davon darf Liesje auf keinen Fall erfahren. Thomas ist alt genug, um sich für Mädchen zu interessieren, wird aber von Vater und Tante wie ein kleines Kind behandelt. Was während des Nationalsozialismus in Amsterdam geschah und wohin so viele Menschen verschwunden sind, wird Thomas verschwiegen. Wenn Erwachsene miteinander sprechen, schicken sie die Kinder hinaus. "Ich werde dir später alles erzählen", weicht Thomas Vater den Fragen seines Sohnes aus. Als Thomas Vater eine Stelle als Zensor bei der Britischen Rhein-Armee in Deutschland annimmt, lebt Thomas erst kurz bei Tante Fie, bis er schließlich zu Piet Zwaan, seinem neuen Klassenkameraden ziehen kann. Piet, genannt Zwaan, lebt mit seiner Tante und seiner Cousine Beth zusammen. Piets Familie war jüdisch, seine Eltern und sein Onkel, der Vater von Beth, sind während der deutschen Besetzung der Niederlande ums Leben gekommen. Als die Klassenkameraden Thomas nachrufen "Ein Judenfreund bist du!", scheint der Junge nicht zu wissen, was damit gemeint ist.

Bei Zwaans wird Thomas deutlich, dass in anderen Familien ganz anders als bei ihm Zuhause über Untertauchen, über Lager und über Juden gesprochen wird. Piet kann sich noch zu gut an die "Moffen", die deutschen Soldaten und ihre Uniformen, erinnern und daran, dass sein Vater damals Angst vor diesen Männern hatte. Seine Eltern hat Piet zum letzten Mal gesehen, als er 6 Jahre alt war. Thomas stellt verblüfft fest, dass seine Eltern die Zwaans früher gekannt haben müssen und dass auch er sie kennen müsste. Warum kann er sich an diese Zeit bloß so schlecht erinnern?

Thomas, Piet und Beth leben wie elternlose Kinder. Beths Mutter ist zwar anwesend, kann jedoch als ewig leidende, exzentrische Person ihre Rolle als Hauhaltsvorstand mehr schlecht als recht ausfüllen. Die einzig "Ältere" ist die 14-jährige Beth, die Piet und Thomas wie Erwachsene behandelt. Über ihr Heranwachsen spricht niemand mit den Jugendlichen, ebenso wenig wie über die Vergangenheit. Ganz typisch für die damalige Zeit verhält sich Thomas Lehrer, dessen Anekdoten nicht über die Zeit des Ersten Weltkriegs hinaus gelangen. Die drei Jugendlichen müssen ihre Probleme allein lösen. Stück für Stück decken sie die Schicksale all der verschwundenen Familienmitglieder auf, von denen nur Fotos zurück geblieben sind und in deren Häusern inzwischen andere wohnen. Die besondere, zarte Freundschaft zwischen den drei Jugendlichen ist nicht frei von Eifersucht und verletzten Gefühlen, dennoch halten sie nach außen fest zusammen. Passend zur Art der Erwachsenen, die in der damaligen Zeit ihren Kindern vieles verschwiegen, beschränkt sich der Autor Peter van Gestel auf das Portrait des nachdenklichen Thomas und deutet vieles nur an. Eine Erklärung, warum kurz nach Kriegsende den Überlebenden das Sprechen über ihre ermordeten und verschollenen Angehörigen so schwer fiel, müssen van Gestels Leser selbst finden.

Zu Beginn des Buches habe ich mich gefragt, ob man Jugendlichen über die Nachkriegszeit erzählen kann, ohne genauer auf den Nationalsozialismus und die Lebensbedingungen kurz nach dem Krieg einzugehen. Kann man voraussetzen, dass jugendliche Leser Begriffe wie Lebensmittelmarken oder Judenstern kennen? Peter van Gestel, der 1937 geboren ist und das Jahr des Wintereises selbst erlebt hat, beschränkt sich vollkommen auf das Innenleben seiner Figuren und ihre innige Freundschaft. Gestel bezeichnet sein Buch selbst als "nicht ganz autobiografisch". Wichtige Informationen über die Verfolgung niederländischer Juden durch die Deutschen ergänzt die Übersetzerin Mirjam Pressler in ihrem informativen Nachwort.
Fazit
In "Wintereis" portraitiert Peter van Gestel in sehr poetischer, feinfühliger Sprache drei niederländische Jugendliche, die weitgehend auf sich gestellt sind, während die Erwachsenen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. Thomas, der die Geschichte erzählt, hat deutlich spürbar von seinem Vater die Freude am Fabulieren geerbt. Ihre tiefe Freundschaft hilft den dreien, die Folgen des Nationalsozialismus zu begreifen und verarbeiten.
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 11. Juli 2009

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