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John C. G. Röhl: Wilhelm II: Der Weg in den Abgrund; 1900-1941

Wilhelm II: Der Weg in den Abgrund; 1900-1941

von John C. G. Röhl
Verlag: Verlag C. H. Beck [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Biografie
ISBN-13 978-3-406-57779-6

Preis: 59,95 Euro bei Amazon.de [Stand: 24. April 2024]
Der Historiker John G. Röhl hat nun den langerwarteten dritten Band seiner monumentalen Biographie über Wilhelm II. vorgelegt. Sie ist als Gegenanalyse zu dem Werk des verstorbenen Historikers Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld?" angelegt. Dieser Historiker hatte im Jahre 2002 die Innen-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches in der Epoche Wilhelms II. zusammen getragen. Er fasste hier in Kürze die Erkenntnisse seines monumentalen und grossartigen Geschichtswerkes: "Bürgerstolz und Weltmachtstreben", einer der besten Darstellungen des Kaiserreiches unter Wilhelm II. zwischen 1890 und 1918, zusammen.

Grund der Studie Mommsen war eine Differenz zu John C. G. Röhl, dessen Lebenswerk die Beschäftigung mit Wilhelm II. mit diesem jetzt erschienenen Band abgeschlossen ist. Röhl baut in dieser Biographie auf sein brilliantes Buch: "Kaiser, Hof und Staat": Wilhelm II. und die deutsche Politik" (4., verb. u. erw. Aufl. 195) auf. Während Röhl - und dies wird auch im vorliegenden dritten Abschlussband sehr deutlich - in Wilhelm II. den Hauptverantwortlichen der deutschen Innen- und Außenpolitik zwischen 1890 und 1914 sieht und ihm eine "erhebliche Mitschuld" (so ein Interview zum Anteil Wilhelms am Ausbruch des Ersten Weltkrieges) zuschreibt und in Anlehnung eines Terminus von Norbert Elias vom "Königsmechanismus" spricht, hatte Mommsen in seinem letzten Werk darauf dezidiert darauf hingewiesen, dass der Anteil der preußisch-deutschen konservativen Machteliten am Anteil der deutschen Politik nicht unterschätzt werden dürfe. Dies stimmt sicherlich.

Dennoch hat mich Mommsens Argumentation nicht ganz überzeugt, denn er belegt in dieser Studie treffend den Einfluss, den Wilhelm II. auf die deutsche Politik hatte. Sicherlich ist es richtig, dass das kaiserliche Regiment sich ab 1906 - und insbesondere mit der sogenannten "Daily Telegraph"-Affäre, die erstmals massive Kritik an dem sogenannten "persönlichen Regiment" des Kaisers laut werden ließ - in der Defensive befand.

Dennoch trug der Kaiser - und darin ist eindeutig Röhl recht zu geben - letztendlich die Verantwortung für die deutsche Politik. Dies stand im Gegensatz zu seinem - sicherlich sehr konservativen - Großvater, der sich - insbesondere im hohen Alter - immer mehr auf Bismarck verließ und selber als "leutseelig-populäres Staatsoberhaupt" (so etwa Volker Ullrich) über den Parteien stand (sein Ausspruch: "es ist schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein!" ist legendär geworden)mehr und mehr auf repräsentative Aufgaben zurückzog.

Wilhelm II. wollte dagegen Selbstherrscher sein. Diesen Anspruch weist Röhl im vorliegenden Band durch zahlreiche Zitate nach. Er zeigt, dass sein Anteil am Weg in den Weltkrieg wichtig und entscheidend war. Differenzen zum Reichskanzler Bethman-Hollweg in der Juli-Krise 1914 seien rein taktisch bedingt gewesen und dürften nicht überinterpretiert werden.

Meines Erachtens haben beide Historiker recht und der "Historikerstreit" Mommsen/Röhl erscheint mir - gerade nach Vorliegen dieses dritten Bandes - recht akademisch zu sein. Wilhelm II. trug die Hauptverantwortung an der deutschen Politik, sein neo-absolutistisches Staatsverständnis ließ eine Delegation der Verantwortlichkeiten nicht zu. Er war allerdings auch schreckhaft und scheute die Konsequenzen seiner - oft martialischen - Reden; ein Aspekt, der auch - entgegen seiner zentralen These - bei Röhl bei der Beschreibung der Marokko-Krise 1905 und der Juli-Krise 1914 - offenbar wird. Bei Röhl kommt m.E. folgender Aspekt der deutschen Geschichte eindeutig zu kurz: Wilhelm II. wurde falsch beraten. Er war daher nicht "an allem schuld", die Berater und Eliten des Kaiserreiches tragen einen erheblichen Anteil an den Verantwortlichkeiten der Politik des Kaiserrreiches zwischen 1890 und 1918. Darin hat Mommsen recht. Dennoch ist der zentrale Einfluss des Kaisers auf die nach ihm benannte - nämlich wilhelminische Politik - wie es ja auch Mommsen durchaus zeigt - nicht zu übersehen - und hier wiederum ist John G. Röhl zuzustimmen, der diese These auch in seinem neuen Band offensiv verteidigt. Ein kindlicher Minderwertigkeitskomplex und seine körperliche Behinderung sind von zahlreichen Historikern - auch Mommsen und Röhl - für die Charaktereigenschaften Wilhelms II. angeführt worden, der jedoch ein "Kind seiner Zeit" blieb. Er war - im Sinne des "Königsmechanismus" durchaus der Hauptverantwortliche und Initiator der deutschen Politik - auch nach der "Daily Telegraph-Affäre" 1908. Richard Ned Lebow hat nachgewiesen - und Röhl folgt ihm hierin - dass in der Außenpolitik eine eigenständige Meinung der Diplomaten nicht geduldet wurde - sie mußten der Reichsleitung und dem Kaiser "nach dem Mund reden". Röhl zeigt dies auch für den Hof und die Hofgesellschaft Wilhelms II. auf. Er duldete nur Ja-Sager und keinen Widerspruch. Aufgrund der halbkonstitutionellen Verfassung des deutschen Kaiserreiches, vom "weißen Revolutionär" Bismarck geschaffen, gab es letztlich keine Gegengewichte gegen den Kaiser. Zwar bleibt zweifelhaft, ob eine parlamentarische Monarchie nicht ebenfalls ein gigantisches Flottenprogramm gegen England aufgelegt hätte - der Einfluss des "persönlichen Regiments" des Monarchen wäre allerdings in einem solchen Fall begrenzt worden. Und hier gilt, was der deutsche Admiral Albert Hopman im Oktober 1918 schrieb: "Es ist gekommen, wie ich vorausgesehen, nicht nur in den letzten Wochen, sondern lange lange vorher. Was Deutschland in den letzten 3 Jahrzehnten gesündigt hat, muss es büßen. Es war politisch erstarrt durch das blinde Vertrauen, die sklavische Unterordnung unter den Willen eines in Eitelkeit und Selbstüberschätzung strotzenden Narren." Diese zentrale Feststellung Röhls aus seinem Aufsatz: "Kaiser Wilhelm II: Eine Charakterskizze" in seinem Buch: "Kaiser, Hof und Staat" ist völlig korrekt. Natürlich war der Kaiser "nicht an allem schuld." Der Versuch Mommsens ist dennoch nicht zu übersehen, die Verantwortung des Kaisers geringer zu werten, als sie es tatsächlich gewesen ist. Und genau dagegen schreibt Röhl - insbesondere in diesem dritten Teil seiner lesenswerten, wenn auch mit Quellen überfrachteten, Biographie an. Insofern neige ich in dem Streit Röhl zu. Allerdings scheinen mir beide Positionen zu überspitzt zu sein, wie oben angedeutet. Die "Wahrheit" dürfte wohl eher in der Mitte beider Positionen liegen.

Für alle Interessierte der wilhelminischen Epoche ist das Buch - wie auch das Werk von Mommsen - unverzichtbar. Als kürzere Einführung zum Thema für interessierte, denen die drei Bände schlicht zu umfangreich sind, sind Röhls: "Kaiser, Hof und Staat", und das erwähnte Buch von Wolfgang J. Mommsen: "War der Kaiser an allem schuld" und Volker Ullrichs - m.E. bestes - Grundlagenwerk zum Kaiserreich: "Die nervöse Großmacht", heranzuziehen. Wer sich darüber hinaus für das Thema interessiert, dem sei Radkaus "Zeitalter der Nervosität" sowie das von Lothar Gall herausgegebene: "Otto von Bismarck und Wilhelm II." empfohlen. Und natürlich gibt es noch den "Klassiker" zum zum deutschen Kaiserreich von Hans-Ullrich Wehler. Diese sind m.E. nach wie vor die besten Einführungen zum Thema.
Fazit
Egal wie man zu Röhls These steht - die ersten Rezensionen in der Presse zeigen, dass sie von Historikern und Journalisten überwiegend abgelehnt und Mommsens These zugeneigt wird - so gilt dennoch zu konstatieren: ich bewundere die Forschungs- und Lebensleistung von John G. Röhl, der viele Quellen zu Wilhelm II. selber in mühsamer Forschungsarbeit aufgespürt und zusammengetragen hat, was zum Teil - besonders im Teil vor 1914 - auf Kosten der Lesbarkeit des Bandes geht. Insgesamt dürfte diese Biographie dennoch zum Standardwerk werden. Daher vergebe ich die volle Punktzahl
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne
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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 02. Oktober 2008

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