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Abtprimas Notker Wolf: Worauf warten wir? Ketzerische Gedanken zu Deutschland

Worauf warten wir? Ketzerische Gedanken zu Deutschland

von Abtprimas Notker Wolf
Verlag: Rowohlt Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Politik
ISBN-13 978-3-499-62094-2

Preis: 0,78 Euro bei Amazon.de [Stand: 25. April 2024]
Schauen wir uns heute im Lande um, so bedarf es nicht vieler Mühe um zu erkennen, daß Politiker anscheinend und zunehmend eine Oligarchie der Professionellen in einem allgemeinen Klima der Unverantwortlichkeit innerhalb einer selbst geschaffenen pathologischen Normalität bilden, deren suggerierendes Modell durch einen Mangel an wahrem Interesse daran geprägt ist, intellektuelle Kreativität in Gänze zuzulassen. Deutschland geht es schlecht - so der allgemeine emotionelle Kanon: die Arbeitslosigkeit steigt, die Wirtschaft stagniert, die Staatskassen sind leer. Schuld daran seien die anderen: Politiker, Manager, Gewerkschaften, Konzerne, Banken - nur wir nicht.

Zudem sind die Formen des inneren Niedergangs der Demokratie längst ausgemacht und werden dahingehend kenntlich, daß das, was stets als die starke Mitte gefeiert wurde, dahinschmilzt. Die Volksparteien verlieren an Bedeutung. An ihre Stelle drängt ein apathisches Potential an Nicht- und Protestwählern. Die Hälfte der Bevölkerung ist im Begriff, aus dem politischen System auszusteigen. Der Einzelne scheint leidenschaftslos mit fertigen Modellen beliefert zu werden, die nur noch Faulheit und Passivität als Essenz der Kultur gelten lassen, die oft mit "Sozialstaat" gleichgesetzt wird. Ist unter diesen Umständen ein entschiedener und leidenschaftlicher Aktionismus für die Politik noch zu erlangen? Oder muss kulturelle Nahrung bestenfalls immer nur Vergnügungen, Festmeile und Sensationen sein, anstelle substanzieller Schaffensfreude?

Um entsprechend etwas zu verändern, müssten wir etwas aufgeben: Denkgewohnheiten, Sicherheit, Besitz und Ansprüche. Provokant prangert Notker Wolf im vorliegenden Buch genau jene deutschen Besitzstandswahrer an und zeigt, wie wir durch ein ausdrückliches Mehr an Freiheit eine zukunftsorientierte Gesellschaft werden können. "Nur motivierte und freie Menschen können kreativ sein, und darauf wird es künftig immer stärker ankommen. Know-how, Innovationskraft, Einfallsreichtum, Phantasie, darin liegt unsere Stärke, damit können wir auch den globalen Wettbewerb bestehen." (173) Diese Worte klingen wie Balsam für die Seele eines jeden, der sich heute nicht nur Gedanken über Gott und die Welt macht, sondern dem es zudem auch um eine dezidiert deutsche Zukunft geht.

Dieses Buch ist ein Buch der Besinnung genau in diese Richtung. Stets spürt man die geistige Unabhängigkeit eines Mannes, der als "Chef" von 16.600 Nonnen und Schwestern und 8.400 Mönchen und als Verantwortlicher für die Hochschule und das Kolleg von Sant’ Anselmo geistliche Aufgaben mit vielerlei Managementpflichten zu vereinbaren hat. Sein Erfolg ließe sich also in die politische Dimension hinein übertragen: Nur in offener Meinungsfreiheit, die Abweichungen toleriert und im politischen Streit komplett austrägt, erwachsen Mut, Authentizität und Kreativität. Bei Wolf klingt dieses Plädoyer zur Bewahrung eines mutigen Ideal-Realismus so: "Und deshalb würde ich Unternehmer und Vorgesetzte ermutigen, in ihren Betrieben eine Atmosphäre zu schaffen, in der auch Querdenker ungeschützt ihre Meinung vorbringen dürfen." (173) Hervorzuheben sind in diesem klugen, wenngleich provozierendem Buch deshalb auch die Äußerungen zur Laisser-faire-Bewegung der Achtundsechziger, mit der er hart ins Gericht geht, da sie selbst die Vernunft zerstört habe. "Den wenigsten fällt auf, dass die Devise der Selbstverwirklichung nichts anderes als die Umkehrung einer Naziparole ist. "Du bist nichts, dein Volk ist alles!" hatte es im Dritten Reich geheißen. "Du bist alles, dein Volk ist nichts!" soll jetzt richtig sein. Doch das eine ist so falsch wie das andere. (68) - Also keine Ersetzung eines Extrems durch das Andere, sondern reflektierte ganzheitliche Freiheit steht im Mittelpunkt des Buches, welches den eigenverantwortlichen Leser anspricht.

Und so muß nun auch eine große Vision, ein formeller Mythos der frühen Nachkriegszeit für die Gegenwart völlig richtig dekonstruiert werden: "Der Betreuungsstaat sozialdemokratischer Prägung ist bereits am Ende." (16) Man könnte meinen, Wolf zitiere in diesem Zusammenhang unbeabsichtigt Max Schelers Schrift "Vom Umsturz der Werte" (1919). Dort nämlich heißt es, in Jugendbanden herrsche ein archaisches Milieu, dessen Theorie deshalb - wie später im Falle der Achtundsechziger - gewaltsam werde, weil der Mensch den Zufall, die Tatsache, daß überhaupt Welt ist, in demselben Augenblicke entdecken müsse, wo er überhaupt sich selbst und seiner Welt bewußt geworden ist. Der Geist und der Drang, die beiden Attribute des Seins, würden so am Selbst jeder Person wachsen - wie in den sechziger Jahren, wo die Archaik der Rebellion immer auch postpubertäre Selbstentdeckung war. Nur mit verkehrter Konsequenz, die Wolf nun nicht im sozialdemokratischen Versorgungsstaat sieht, sondern im Sinne Schelers im dezidierten autonomen Einsatz der Person selbst, die sich dadurch erst auch zu wissen vermag. Diese Person kennt keine Tabus im Denken und damit einen dauerhaft gültigen Besitzstand im Politischen.

Konsequent fordert der Benediktiner deshalb ein autonomes und grundsätzliches Umdenken - weg vom bundesdeutschen Primat der Gleichheit und vom Mythos der Schuld hin zur Wiedererlangung der Freiheit, die keinen pseudomoralisch-bewältigenden Obrigkeitsstaat braucht, keinen gehorsamen, resignierten und bußbereiten Zivil-Bürger unter dem Schirm der sich selbst in steuerfinanzierten Kongressen feiernden und nebulösen "Zivilgesellschaft", sondern das Pathos des eigenverantwortlichen Kampfes. Das Bedürfnis danach scheint in der Tat größer zu werden.

In 21 fließend geschriebenen Kapiteln wird vorbildlich und ermutigend ein Plädoyer vorgelegt, das auf Selbstbewußtsein, Vertrauen, Stolz, Höflichkeit und Respekt beruht. Es weist damit gerade den Deutschen, die mit diesem Wort noch etwas ganz Spezielles verbinden, den Weg. Und dazu gehört - philosophisch betrachtet - gerade die Konvergenz von Realismus und Idealismus, die sich beide im Rahmen einer integralen Betrachtungsweise des Seins bedingen, sich aneinander bewähren müssen und gerade deshalb nicht bei der ausschließlichen Proklamation eines sozialen oder politischen Mythos stehenbleiben. "Realismus aber schließt Visionen nicht aus." (217)
Fazit
Visionen begeistern und setzen Kräfte frei. - So auch dieses Buch.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 27. Januar 2008

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