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Dimitri Wolkogonow: Die Sieben Führer

Die Sieben Führer

von Dimitri Wolkogonow
Verlag: Societäts-Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Biografie
ISBN-13 978-3-7973-0774-3

Preis: 51,57 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Als ich hörte, dass von Dimitri Wolkogonow, dem Biographen Stalins, Lenins und Trotzkis eine Biographie über die Führer der Sowjetunion erscheinen würde, war ich sehr gespannt. Hatte ich doch das einzige vergleichbare Werk, welches die gleiche Thematik auf dem Buchmarkt anspricht, Michail S. Voslenskys "Sterbliche Götter" (neben L. Koehls "Kremlchefs" von 1991), gelesen und war auf einen Vergleich gespannt.

Wolkogonow, ehemaliger Chef der Politischen Hauptverwaltung der Armee und seit 1985 Leiter des Instituts für Militärgeschichte, konnte die Geheimarchive der Partei studieren. Er wertete Protokolle von Politbürositzungen und Sitzungen des Zentralkomitees aus, unter anderem das Archiv des russischen Präsidenten, das Archiv des Geheimdienstes, des früheren KGB, das Staatsarchiv der UdSSR, die Unterlagen des Russischen Zentrums für die Verwahrung und das Studium von Dokumenten der Neueren Geschichte, das Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums und des Zentrums für die Verwahrung von Dokumenten der Zeitgeschichte.

Jedes der sieben chronologisch angeordneten Kapitel des Buches ist eine eigenständige politische Studie, die durch einen gemeinsamen Faden der Ideologie, der Weltanschauung und der Praxis zusammengehalten werden, so der Herausgeber der englischen Ausgabe. Ähnlich wie bei Voslenski wird Lenin von seinem "Sockel" als "Übervater" geholt und seine Grausamkeit und Härte herausgearbeitet. Wie Voslenski sieht er Lenin und Stalin als die Verursacher der sowjetischen Tragödie an, da sie ihre Weltanschauung über alles stellten und Gegner als Feinde betrachteten, die sie gnadenlos vernichteten. Gegenüber den zahlreichen Lenin- und Stalinbiographien (vgl. bei Lenin etwa zuletzt die Biographien von Robert Service und Helene Carriere d'Encausse) ergibt sich nichts substantiell neues. Und hier beginnt meine Enttäuschung über die Biographien. Zwar werden - der Autobiographie des Autors gemäß - militärische Fragen ausgiebigst erörtert (etwa die Fehler Stalins im Zweiten Weltkrieg und die defensive Haltung Stalins gegenüber Hitler), jedoch ganz zentrale Fragen, die durch die Dokumente eben nicht geklärt werden, nicht beantwortet, etwa die Frage, inwieweit Stalin in die Ermordung des Leningrader Parteichefs Kirow involviert gewesen ist, die in der Forschung unterschiedlich beantwortet wird. Auch die interessante, bei Voslensky erörterte Frage, ob Stalin selber Doppelagent der Ochrana gewesen sei und daher sein pathologisches Mißtrauen gegen Spione zu erklären sei, wird nicht angesprochen. Bei Chruschtschow fällt dieser Mangel, sich in die Psyche des Parteichefs hineinzudenken, besonders auf. Dieser wird zwar als Reformer betrachtet, der das totalitäte in ein autoritäres System umgewandelt habe, auch seine Schwächen (mangelnde Sachkenntnis auf zahlreichen Gebieten, unkritischer Glaube an Partei und System, Impulsivität und Emotionalität) werden herausgearbeitet, jedoch bei weitem nicht so gut wie etwa bei Voslenski. Gut dokumentiert sind hingegen die Entstehung der Kuba-Krise, die zeigt, wie naiv und im wahrsten Sinne "abenteuerlich" die Weltsicht Chruschtschows war, der - dies war mir neu - durchaus Pläne billigte, die USA atomar anzugreifen (S. 243). Die Ursachen seines Sturzes werden - da die diesbezüglichen Dokumente zum Teil vernichtet worden sind - nur kursorisch erklärt, der Machtkampf mit Koslow, wie er bei Michel Tatu (Macht und Ohnmacht im Kreml, 1969) ausführlich erörtert wird, kommt nicht vor, auch der Machtkampf um die Nachfolge Breschnjews wird nicht ausführlich dargestellt. Zunächst konnte sich Andropow durchsetzen, der als sehr kluger Politiker geschildert wird, der als einziger in der Breschnjew-Führung um die Probleme des Riesenreiches wußte, wenn ihm auch die Zeit fehlte, seine - sehr einseitigen, auf Stärkung der Parteidisziplin ausgerichteten - Konzepte, durchzusezten. Tschernenko wird als Politiker dargestellt, der nur vom Blatt ablesen konnte, so dass man sich fragen muß, wie ein solcher Politiker überhaupt an die Spitze gelangen konnte. Bei Voslensky oder Dusko Doder ("Machtkampf im Kreml", 1983) wird deutlicher herausgearbeit, dass Tschernenko ein Produkt des Systems gewesen ist und - bei aller intellektuellen Beschränktheit - ein ausgefuchster Machtpolitiker und kein Dummkopf gewesen ist. Auch bei Gorbatschow, den er - im Gegensatz zu Voslenski - mit großer Sympathie betrachtet, da er das totalitäre System beseitigt hatte, wird der Mangel an plastischer Darstellung deutlich. Nun ist - dies sagt der Autor selber - über Gorbatschow so viel publiziert worden wie über keinen der anderen Sowjetführer, die "Befangenheit", über diesen zu schreiben, ist daher naturgemäß größer. Doch seine Rolle - etwa bei der Niederschlagung der Unabhängigkeit der baltischen Republiken in Baku und dem Massaker in Tiflis, hätte deutlicher herausgearbeitet werden müssen. Memoiren der beteiligten Personen liegen nun wirklich - besonders im Russischen und Englischen - sehr zahlreich vor. So enttäuscht auch dieser biographische Abriss.

Fazit: Es ist durchaus interessant, diese Biographien zu lesen, die erstmals geheime Dokumente erschließen. Da jedoch in der alten UdSSR der Wert schriftlicher Dokumente (die Politbüromitglieder wurden bis 1990 abgehört) begrenzt ist - das sogenannte Phänomen des "Doublethink" (vgl. diesen Begriff bei George Orwell oder Gail Sheehy) - ist auch der Aussagewert dieser Biographien begrenzt, dem die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Menschen fehlt, die - meines Erachtens zu Unrecht - zu reinen Automaten der Macht degradiert werden. Wer ein menschlich-psychologisches Bild der Kremlführer sucht, sollte zu Voslenskys "Sterbliche Götter" greifen. Dennoch ist die Studie eine gute Erstinformation für politisch interssierte eines durchaus äußerst mutigen Autors, der seine eigenen Fehler (Mitläufertum) immer eingestanden hat und dem es an Willen zur Aufklärung bis zu seinem Krebstod 1995 nicht mangelte.

Das Buch wird ergänzt durch ein hervorragendes Porträt des FAZ-Korrespondenten Markus Wehner, der die postsowjetische Politik unter Jelzin bis Putin charakterisiert und ein sehr interessantes Porträt des gegenwärtigen russischen Präsidenten abgibt, der außenpolitische Erfolge errungen habe und innenpolitisch einen Wandel des politischen Bewußtseins bewirken konnte (S. 541). Putins Vorbild sei Peter der Große, Demokratie habe er nie verinnerlicht, sondern wende Geheimdienstmethoden an, um diejenigen zu "bestrafen", die ihm gegenüber nicht loyal seien. Pläne würden mit aller Konsequenz verfolgt, Ereignisse und Informationen, die ihn dabei störten, würden als Sabotage und Propaganda gewertet, selbst da, wo es notwendig sei, den Plan zu ändern. Im Gegensatz zu Vorgänger Jelzin sei Putin jedoch ein zielstrebiger Mannschaftsspieler,der nicht mit Leuten wegen Meinungsverschiedenheiten bräche. "Er ist unfähig zum Verrat", sagte der verstorbene Petersburger Oberbürgermeister Sobtschak über ihn. Auffällig sei seine Fähigkeit, über lange Zeit konzentriert zu arbeiten. Die Bilanz des ersten Putin-Jahres sei nicht von bahnbrechenden Erfolgen geprägt gewesen, was ihm jedoch bei der Bevölkerung selber nicht geschadet und ihn kaum in Bedrängnis gebracht habe. Wie er mit seinen Plänen, die einstige russische Größe wieder herzustellen, vorankäme, lasse sich noch nicht beurteilen. Sicherlich sei jedoch auch, dass das, was er tun wird, den Freunden der Demokratie oft nicht gefallen wird.

Ein zutreffendes Portrait, wie ich finde und insgesamt die für die an der russischen Zukunft interessierten Leser die interessantesten Seiten dieser Monographie.
Fazit
Interessante Lektüre für Fachleute und Russland-Interessierte, die jedoch leider die Erwartungen nicht ganz erfüllt, die sie weckt. Als Erstinformation brauchbar.
6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne6 Sterne

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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 05. Januar 2003

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