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Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden

Interviews mit Sterbenden

von Elisabeth Kübler-Ross
Verlag: Kreuz-Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-7831-1493-5

Preis: 9,17 Euro bei Amazon.de [Stand: 24. April 2024]
Seit dreißig Jahren begleitet mich ein Büchlein, das mir für meine Entwicklung und für meinen Beruf sehr wichtig geworden ist: "Interviews mit Sterbenden" von Elisabeth Kübler-Ross. Die in den USA lebende Schweizer Ärztin und Wissenschaftlerin, Wegbereiterin der Thanatologie (Wissenschaft vom Sterben; griech. "thanatos" - der Tod), hat mit der Veröffentlichung dieser Arbeit im Jahre 1969 Neuland betreten. Es war das erste einer Reihe von Büchern dieser Autorin zu Fragen des Umgang mit dem Tod und mit Menschen, die lebensbedrohlich krank sind, zu einem Thema also, das damals im gesellschaftlichen Bewußtsein noch weit mehr tabuisiert worden ist als heute. Ich hatte die Gelegenheit, dieser sehr engagierten und leidenschaftlichen Frau persönlich zu begegnen und Briefe mit ihr zu auszutauschen, und das hat meine Hochachtung vor ihr noch verstärkt.
Das Grundanliegen des Buches ist die Mahnung, daß vor dem Hintergrund des unpersönlich-sterilen Kliniksystems der Schwerkranke als Individuum mit ganz persönlichen Besonderheiten und Eigenarten, Gefühlen und Bedürfnissen unbedingt im Vordergrund bleiben muß. Der Patient sollte zum Lehrer für die medizinischen Mitarbeiter sowie seiner Angehörigen und Freunde werden, weil die Personen in seiner direkten Umwelt ihrer begleitenden Aufgabe nur dann wirklich gerecht werden können, wenn sie mehr, als bis dahin bekannt war, über die Endstation des Lebens, über die Gedanken und Empfindungen, die Ängste und Hoffnungen, die Kämpfe und Enttäuschungen von Sterbenden wissen.
Zu diesem Zweck deckt Elisabeth Kübler-Ross zunächst die Wurzeln der irrationalen Angst unserer Gesellschaft vor dem Tod auf und die Ursachen dafür, daß heute - im Unterschied zu früheren Zeiten - der Tod nicht mehr als natürlicher Bestandteil des Lebens wahrgenommen wird, und sie arbeitet heraus, wie verhängnisvoll dieses gestörte Verhältnis zum Tod sich auf das Verhältnis zum sterbenden Menschen auswirkt. Indem sie ihre Leser dazu ermuntert, den Tod in ihr Denken und Fühlen einzulassen, versucht sie, ihnen ein Stück von der Unsicherheit zu nehmen, die immer wieder dazu verführt, den Menschen im letzten und schwierigsten Abschnitt ihres Lebens - zumindest emotional, oft aber auch räumlich - aus dem Wege zu gehen, und sie macht Mut, sich ihnen ohne Scheu und Hilflosigkeit zuzuwenden und das letzte Stück gemeinsam mit ihnen zu gehen. Wenngleich das Erscheinen dieses Buches auch eine Generation zurückliegt, so ist es doch immer noch von aktueller Brisanz, denn die Probleme unserer Gesellschaft und sehr vieler einzelner Menschen mit diesem Thema sind noch immer nicht gelöst.
Die bedeutsamen Forschungsergebnisse der Autorin bezüglich der verschiedenen psychischen Phasen, die lebensbedrohlich Erkrankte durchlaufen, bilden den Schwerpunkt dieser Veröffentlichung. Sie hatte damals als erste herausgefunden, daß es fünf Phasen sind, von denen das Erleben und Verhalten Sterbender geprägt ist:
1. Die Phase der Leugnung
(Der Patient befindet sich in der Spannung zwischen Ahnen und Wissen einerseits und dem Nicht-wahrhaben-Wollen andererseits, weil er die erschütternde Realität der unheilvollen Prognose anfangs noch nicht zu ertragen imstande ist, und er klammert sich an die Möglichkeit eines Irrtums. Diese Abwehrreaktion der Verdrängung als Schutzfunktion der Seele gibt ihm die Möglichkeit, sich der Tatsache rational und emotional erst später zu öffnen, wenn er die Kraft dazu gesammelt hat.)

2. Die Phase des Zorns
(Der Patient erkennt nun, daß es ihn wirklich betrifft, und er lehnt sich innerlich auf gegen ein als ungerecht empfundenes Schicksal oder gegen Gott. Er ist erfüllt von Zorn, der sich gegen alles und jeden richtet.)

3. Die Phase des Verhandelns
(Der Patient hegt insgeheim die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang als "Gegenleistung" für ein Gelübde: Er sucht mit dem Schicksal oder mit Gott zu "handeln", indem er z.B. gelobt, etwas Gutes zu tun oder sein Leben zu ändern, falls er aus der gegenwärtigen Todesbedrohung noch einmal gerettet werden sollte.)

4. Die Phase der Depression
(Der Patient empfindet eine tiefe Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit, da er spürt, daß der Tod unausweichlich ist und er Abschied nehmen muß von allem und besonders von Menschen, die er liebt.)

5. Die Phase der Annahme
(Der Patient kann sich mit dem Unabwendbaren nun einverstanden erklären und bereit sein zum Sterben. Aus diesem Annehmen-Können, das nur wenige Sterbende erreichen, erwächst ihm eine neue psychische Stabilität und ein tiefer Seelenfrieden, der von Angehörigen, die den Sterbenden nicht loslassen wollen, leider oft wieder zerstört wird.)
Zu jeder dieser Phasen wird überzeugend erläutert, welche Verhaltensweisen der Begleitenden jeweils angemessen und hilfreich sind und welche - irrtümlich gut gemeinten - vermieden werden sollen.
Die Beschreibung dieser fünf Phasen (die übrigens keine zwangsläufige Aufeinanderfolge darstellen und auch nicht in jedem Falle gleich verlaufen!) veranschaulicht die Autorin mit zahlreichen Interviews, die sie mit Patienten im Endstadium ihrer todbringenden Krankheit geführt hat.
Diese Methode war anfangs umstritten: Es wurde - besonders von katholischer Seite - befürchtet, die Grenze der Intimspäre werde nicht ausreichend berücksichtigt, wenn Menschen in einer Ausnahmesituation dazu veranlaßt würden, über sehr sensible Fragen zu sprechen, die außer dem Betroffenen selbst und Gott niemanden etwas angehen dürften. Die Scheu vor den "Letzten Dingen" sollte daran hindern, Geheimnisse bloßlegen zu wollen. Solche Bedenken sind schnell ausgeräumt, wenn man beim Lesen erkennt, mit wieviel Gefühl und Taktempfinden die Fragen gestellt sind, und daß selbstverständlich niemand zu antworten gedrängt worden ist, wenn er zu einer Frage schweigen wollte. Aus den Gesprächsprotokollen ergibt sich aber vor allem unmißverständlich, daß die Befragten über ihre psychische Befindlichkeit (direkt und indirekt) sehr bereitwillig Auskunft gegeben und daß sie nach dieser - sonst nicht möglich gewesenen! - Gelegenheit, sich einmal rückhaltlos aussprechen zu können, ein Gefühl der Erleichterung und der Befriedigung gehabt haben.
In weiteren Kapiteln geht Elisabeth Kübler-Ross auf das Phänomen der Hoffnung des Sterbenden ein, die trotz seinem Wissen um den nahen Tod nie ganz verschwindet, sondern - in ihrem Inhalt immer wieder verändert - bis zum letzten Atemzuge bleibt, auf die Familie des Kranken und Besonderheiten und Möglichkeiten in der Abschiedszeit sowie auf Grundsätze der psychischen Behandlung Kranker im Endstadium. Dem Buch ist eine ausführliche Erklärung medizinischer Fachbegriffe hinzugefügt und (zumindest in meiner Ausgabe) ein Nachwort des Theologen Manfred Haustein.
Damals, da ich als Student das neu erschienene Buch zum ersten Male las, fand ich zu sehr wichtigen Erkenntnissen:
Ich sollte die Gedanken an den Tod nicht verdrängen und die Auseinandersetzung damit nicht vor mir her schieben, bis ich ihr nicht mehr ausweichen kann. Es ist klug, ab und zu an die Begrenztheit meines Lebens und das der Menschen denken, die mir am Herzen liegen, ehe die Wirklichkeit mich unbarmherzig damit konfrontiert und mich brutal mit der Nase darauf stößt. Dieses Nachdenken über den Tod war seitdem sehr hilfreich und heilsam für mich. Außerdem erkannte ich, daß es ein Weg zum Frieden ist, meinem persönlichen und dem in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Elisabeth Kübler-Ross hat recht, wenn sie schreibt, daß wir auch dem Frieden zwischen den Völkern einen Schritt näher kämen, "wenn wir der Realität unseres eigenen Todes ins Auge sähen und ihn annähmen".
Fazit
Deshalb ist dieses Buch nicht nur für diejenigen geschrieben, die jetzt mit dem Tod konfrontiert sind. Ich möchte es daher allen Menschen empfehlen, die ihn aus ihren Gedanken verdrängen, weil sie meinen, solange man jung und gesund sei, brauche man sich damit nicht zu befassen. Dabei wissen wir doch, daß wir uns damit nur selbst belügen. "Interviews mit Sterbenden" ist auch kein Fachbuch für Mediziner oder Psychologen, seine Sprache ist allgemeinverständlich und gefühlvoll und hat mich sehr berührt. Dazu tragen nicht zuletzt die treffenden und zum Nachdenken anregenden Worte von Rabindranath Tagore bei, die jedem Kapitel vorangestellt sind.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne

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Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner [Profil]
veröffentlicht am 27. November 2002

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