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Michael Hagner: Die Transformation des Humanen

Die Transformation des Humanen

von Michael Hagner
Verlag: Suhrkamp Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-518-29448-2

Preis: 24,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 19. April 2024]
Unter kybernetischen Systemen versteht man - so ein kybernetisches Fachbuch aus der DDR - einen besonderen Typ dynamischer Systeme, der dadurch gekennzeichnet ist, daß jede Folge von Systemzuständen einem Gleichgewichtszustand anstrebt. "Kybernetische Systeme erreichen diesen Zustand eines Gleichgewichtes durch Rückkoppelungen. (...) Höhere Formen kybernetischer Systeme haben die Fähigkeit der Optimierung und Selbstorganisation." (Wörterbuch der Kybernetik, Dietz-Verlag, Berlin, 1968, S. 335/336)

Das Buch erkennt weiterhin völlig richtig, daß die Kybernetik Brennpunkt philosophischer Auseinandersetzungen ist und war, wendet sich aber gegen die Auffassung einer kybernetischen Widerlegung des Materialismus. Es ist gegen die Haltung, Kybernetik sei nichtmateriell bestimmt. Keine Frage, daß das DDR-Gedankengerüst des Historischen Materialismus dies behaupten mußte und überzeugt war, die Kybernetik sei wesentlich materialistisch und dialektisch. (Ebd., S. 32) Dennoch waren kybernetische Haupttheorien und Denker stets Vertreter des Idealismus, insbesondere des Deutschen Idealismus, denn nur dort wurde versucht, das Wesen des Seins in seiner Komplexität und Ganzheit zu erfassen - jenseits einer immer nur im Partikularen verharrenden empirischen Erkenntnistheorie.

Auch die Kybernetik faßt also den Menschen als komplexen Funktionsmechanismus auf, der sich zudem nicht prinzipiell von Maschinen unterscheidet. Von Anfang an definierte sie sich gerade deshalb als neue Einheitswissenschaft. Ihre Anwendungsfelder haben sich jedoch im Laufe der Zeit stark gewandelt und mit ihnen auch die zugehörige Theorie. Um 1930 wurde die Kybernetik Generator beispielloser Technisierung, Mitte der fünfziger Jahre wurde sie zu einem wissenschaftlich und gesellschaftlich wirksamen Arbeits-, Ordnungs- und Deutungsinstrument, insbesondere wie eingangs betont in der DDR. Schließlich führte sie mathematisch-technisches Denken in die Humanwissenschaften ein und veränderte so das Verständnis des Sozialen, des Politischen und des Ökonomischen, des Psychischen, der Künste und auch des Denkens.

Das vorliegende Buch rekonstruiert in einem bisher kaum derartig existenten Überblick die wichtigsten Etappen ihrer wissenschaftshistorischen Entwicklung. Es stellt heraus, inwieweit die Kybernetik das Bewußtsein von den technologischen Bedingungen einer humanen Welt hinterlassen hat. Insbesondere wird hier völlig zu recht mehrfach und notwendig auf Gotthard Günther (1900-1984) eingegangen, war er doch der große deutsche kybernetische Vordenker und entwarf gerade eine Metaphysik der Kybernetik, in deren Folge sich dieselbe - so betont ein Beitrag des Buches - bis heute als Wasserscheide darstelle.

Diese besteht darin, uns von der Moderne und ihren Kategorien wie der Gegensatz von Geist und Materie oder Seele und Körper zu trennen. Kybernetik war also stets integral: materiell und ideell. Sie sah die Verbindung zwischen geistigen und materiellen Determinanten. Mensch und Maschine wurden als eines gedacht, so auch explizit bei Günther. ("Das Bewußtsein der Maschinen", 1955)

Getragen von der Idee des umfassenden Steuergedankens (19) sah die Kybernetik mit Günther die Geburt eines neuen transklassischen Zeitalters (26). In diesem sah Günther mit seiner Geschichtsmetaphysik bereits die Tendenz, daß sich der Mensch durch die Produktion technischer Umwelten neu erfindet. Der Mensch wiederholt sich in technischer Nachbildung. Diese Anerkenntnis einer neuen conditio humana gilt als großer Erkenntnisschritt in der Kybernetik. Hoch zu schätzen ist deshalb, daß das vorliegende Buch stets betont, wie sehr Günther, einst Assistent von Arnold Gehlen in Leipzig, Hegelianer war und wie sehr die Kybernetik folglich durch den Deutschen Idealismus beeinflusst war. Günther parallelisierte auf Basis dieser Erkenntnis die menschlichen Denkweisen und Maschinenarten, nahm gleichsam das heute nicht mehr weg zu denkende Bild voraus, daß Computer virtuelle Abbilder menschlicher Denkweisen und papierner Verwaltungswege sind, daß das Internet eine große Abbildung des menschlichen Gehirns samt aller vorhandenen Informationen darstellt.

Und mehr noch: Der Leser erkennt insbesondere, inwieweit derartig modernes Denken bereits bei Hegel angelegt war. Die Maschinen verändern nicht nur das Bild des Denkens, sondern auch seine Erfahrungsweisen und das seelische Klima überhaupt. Der Beitrag "Das kybernetische Bild des Denkens" stellt richtig heraus, daß Günther mit der Überschreitung der überlieferten Logik im Deutschen Idealismus begonnen und diese für die technische Welt entziffert habe. (189) Günthers kybernetische Reinterpretation der deutschen Transzendentalphilosophie kommt im Buch viel Bedeutung zu, ebenso der Idee einer kybernetischen Zukunft der Philosophie, wobei - so Günther - Ansätze zu einer solchen Theorie in der deutschen und nur in der deutschen Tradition längst vorhanden waren. "Die deutsche Philosophie und mit ihr de deutsche Wissenschaft steht heute an einem Scheideweg. Gott gebe ihr die Kraft zum rechten Entschluß" (zit. aus S. 194)

Sollte man Kritik am vorliegenden Buche üben, so wäre die inhaltliche Lücke zu nennen, die sich durch die thematische Negation des Themas der Kybernetik für die politikwissenschaftliche Forschung auftut. Wie eingangs betont, ist in der Kybernetik die Fähigkeit der Optimierung und Selbstorganisation von Bedeutung. Das ist zugleich eine eminent politische Frage.

Da politischen Systemen nach politologischer Kybernetik und Systemkrisenforschung die Potentialität des optimierten auch Anders-Sein-Könnens der Realität innewohnt, hätte eine enthalten gewesene Analyse darüber, wie sich politische Werte aus wandlungsfähigen Rechtsverhältnissen definieren, einen weiteren Gewinn signalisiert. Für ein offenes demokratisches System, welches wir zumindest mit Blick auf kybernetische Erkenntnisse nicht haben, ist bereits die situationsspezifische Anpassung der legislatorischen Ziel- und Sollwerte an die wandelbaren Ambitionen der gesellschaftlichen Gemeinschaft unerlässlich. Es geht um eine bessere Vermittlung subjektiven Wollens an das politische System. Und hier hätte der von Günther herkommende Sozialphilosoph Johannes Heinrichs benannt werden müssen, der gleichsam den von Günther geforderten Entschluß zur Weiterführung des Deutschen Idealismus in diesem Sinne gefasst hat. Er sieht als Lösung vor, daß die Volksvertretung wandelbare gesellschaftliche Ambitionen in Form des inhaltlich offenen Grundwerteparlamentes realisiere und Sollwerte den Zeitumständen gemäß durch die interne abstimmungsrelevante Bezogenheit mehrerer Sachparlamente zueinander so anpasst, dass den Erkenntnissen politologischer Kybernetik Rechnung getragen wird.

Politische Kybernetik stellt damit in ihrer Wahrnahme statischer und dynamischer Normierung selbst eine Analogie zur kritischen Reflexion dar, welche zumindest der heutigen Parteipolitik nicht zugestanden werden kann. Diese bleibt seit der Gründung der Bundesrepublik recht statisch und reproduziert politische "Werte", die ggf. 1949 aktuell waren. Kreislauffähige Nachhaltigkeit bleibt also weiterhin politische Herausforderung an die Kybernetik. So finden sich z. B. gentechnologische Fragen in Verbindung mit Grundwerte- und Wirtschaftsfragen des sozialen Organismus. Beide Bereiche dürften keiner ideologischen Unterbindung des integralen reflexiven Prozesses unterliegen, wie dies aber gerade ein System von ideologisch gebundenen Parteien aus der Nachkriegszeit voraussetzt. (Vgl. Daniel Bigalke: Der Streit um die deutsche Nachkriegsdemokratie. Zweihundert Jahre deutsches Staatsdenken und bundesdeutscher Parlamentarismus im Fokus einer neuen Wissenschaft von Politik und Reflexion, Saarbrücken, VDM, 2007, 162 S.)
Fazit
Eine politikwissenschaftliche Aufarbeitung kybernetischer Fragen steht damit noch aus.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne

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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 02. März 2008

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