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 QRT: Zombologie. Teqste

Zombologie. Teqste

von QRT
Verlag: Merve-Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-88396-226-9

Preis: 11,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 19. April 2024]
Daß der Leser hier ein außergewöhnliches Buch vor sich hat, stellt sich schon auf dem ersten Blick heraus: das Thema, der Klappentext und die ersten Seiten, welche sich durch einen eigenen ästhetisch-stilistischen Schreibstil auszeichnen, verleiten erfolgreich zu tiefgehender Lektüre. Kurz gesagt: Inhaltlich findet man in "Zombologie" "Teqste" - also Texte - und Teqstfragmente zu einer Theorie der Gewalt, zu Drogen und Genußmitteln, zur Lexikologie der Untoten, zu Helden, Heiligen und Medien - schlichtweg zu sozialen Phänomenen.

QRT, alias Kurt Leiner und eigentlich Markus Wolfgang Konradin Leiner, von dem seit 1999 aus seinem Nachlass vier Textbände im Berliner Merve Verlag erschienen, bezeichnet den Komplex des Sozialen als ein "Walten", dessen "Ursprung und Movens" die Gewalt als die gewalttätige Eröffnung der Differenz ist, deren sprachliche und intellektuelle Organisation man Verwaltung nennt. Das Soziale ist,Bewältigung' (Steuerung) des,Waltens' (Schicksal). Der Merve-Philosoph Leiner bezieht sich ungenannt auf Heidegger, wenn er weiter schreibt, daß jede soziale Positionierung sich auf ein "Sein zum Tode hin" (73) definiert. Materie hingegen wird durch das Leben zum Medium. Zwischen toten Materieobjekten vermitteln Medien. Medien sind operationale Einheiten für Kommunikationsprozesse im weitesten Sinn. Zwischen zwei kommunizierenden Einheiten liegt immer ein weiteres Medium in der Differenz, es ist die Spur, der Abstand der Kommunikation.

Was der Leser hier vorfindet ist ein tiefgründiger Medley aus kultursoziologisch-philosophischen Überlegungen, die auf Philosophen wie Heidegger (Leben als "Sein zum Tode"), Fichte ("Der eigene Tod ist dagegen ein Phänomen für andere.") oder Spengler zurückgehen. Teilweise hätten diese philosophischen Versatzstücke inhaltlich schärfer konturiert hätte werden können. Interessant sind Leiners kultursoziologische Überlegungen zum Helden in der Zeit der Christianisierung: "Ursprünglich sind Helden und Heilige Produkte einer Ästhetik. Durch die Christianisierung, d.h. die Umwertung des Helden in einen Heiligen, verwandelt sich der heilige in ein Produkt der Ethik." (61)

Soweit, so gut. Doch zeichnet sich ab, daß es dem Autor um mehr geht. Er zielt gerade auf ein Durchbrechen von abendländisch-christlichen Dualismen und Moral-Codes wie "gut - böse" oder "gut - schlecht", um sie zugunsten einer Unschärferelation aufzubrechen, die er "Zombinarismus" (11) nennt. Der Zombi ist Untoter, eine "negatio duplex", und erscheint dem Lebenden als Toter. Im Vergleich zum echten Toten ist er Lebendig. Zugleich erhebt sich damit die Anklage gegen die Ausgrenzung des Todes und der Toten in einer Zeit, in der alles auf das Prinzip der Legalität, des lediglichen Erlaubtseins zusammenschrumpft, einer Welt, in der die Mode, die Medien, das Vergnügen und der permanent sich aufdrängende Konsum - so Leiner - die Menschen zu Zombis macht. Leiner schreibt: "Alle Diskurse, d.h. Bedingungen der Möglichkeit eines speizifischen Sprechens in einer Kultur, sind an ihre Axiome gebunden und dazu verdammt, sie permanent zu thematisieren und zu repetieren. In dieser bürgerlichen Gesellschaft eben Humanismus, Geschichtlichkeit, Subjektivität, politische Ökonomie und Rationalität. Zombologie ist ein Versuch, mit einer anderen Axiomatik zu operieren, die vielleicht einem wilden Sprechen näher steht. Damit eröffnet sich sogleich die Notwendigkeit ethnologischer Blicke, die nicht von einer eurozentrischen Position geworfen werden." (9)

Selbst Spenglers Unterscheidung von "Dasein" und "Wachsein" erhält mit der vorliegenden Theorie der "Zombologie" eine neue Bedeutung für die Gegenwart. Es ist dies der Unterschied zwischen Passivität (Dasein) und Aktivität (Wachsein), Pflanze (Dasein) und Mensch (Wachsein) - worin eben die vom System erzeugten Untoten sowohl ein neues soziologisches Phänomen darstellen. Sie nehmen eine neue Mittlerposition ein und bedürfen als Ereignisse des Sozialen einer neuen wissenschaftlichen Erörterung, welche die herkömmliche Anthropologie nicht mehr zu bieten befähigt ist. Was wir vom Ereignis im Realen wissen - hier wiederum ein Versatzstück des transzendentalen Idealismus - ist für Leiner bloß das, als "was uns das Ereignis im Imaginären erscheint" (31), und dieses wird wiederum von den Medien gespeist.

Leiner plädiert deshalb im vorliegenden 292. Merve-Band für "Zombologie", die die Anthropologie ersetzen soll, weil Zombologie die - frei nach Dostojewski - vom sozialen und politischen System der Gegenwart erzeugten Beleidigten und Erniedrigten besser und aus neuem Betrachtungswinkel analysiert - nämlich aus ihrer eigenen oftmals gerade von Gewalt geprägten und damit jenseits einer jeden staatlich verordneten Legalität befindlichen Lebenswelt, die den proklamierten Pazifismus als Hohn versteht. "Durch den totalen Ausschluss der Gewalt tritt die irreguläre Gewalt vor allem bei denen auf, die als soziale Gruppe vom Aus- oder Einschluss betroffen sind". Der Tot ist in diesem Zusammenhang keine biologische sondern eine soziale Grenze: Der Sozialstaat wird zur Brutstätte des modernen Untoten, der durch den Staat auf kümmerlichem Niveau gehalten wird. Zugleich aber repräsentiert der soziale Zombie immer auch den Widerpart zum geldfixierten, instrumentalen Körper der Arbeitergesellschaft. Verständlich wird hier die Einordnung des Zombis aus neuer wissenschaftlicher Perspektive recht schnell: Gilt er den Ethnologen als Mythologem, so ist er für die Soziologen ein Kulturem - Ausdruck einer Zeit, die sich post-industrielle Welt nennt und deren postmoderne Diskurse, von Foucault bis Virilio und Baudrillard, geprägt wurden. Weitere wichtige Namen fallen: Bataille, Klossowski oder Serres - alles Meister der Thanatologie, unter denen gegenwärtig nur noch der Name des Berliner Herausgebers der Schriften Philipp Mainländers, Winfried Müller-Seyfarth, fehlen würde.

Bis zur Publikationsreife, so wird oft moniert, seien viele Texte von Leiner nicht gediehen. Nach vollendeter Lektüre der vorliegenden Schrift weiß der Leser ohne Zweifel, daß dies auch gar nicht nötig ist. Die Texte stehen als Kunstwerk für sich, bestechen durch ihre Gedankenschärfe und ihr Provokationspotential. Und das, was provoziert, war schon immer der Realität näher, als es der Mensch als potentiell Verführbarer wahrhaben möchte. Der Autor von "Zombologie" hat deshalb und gerade in Anbetracht gegenwärtiger Pauperisierungstendenzen, Leiner würde sagen "Zombologisierung", Interesse verdient. Sehr erhellend und geradezu notwendig zur Einordnung der Schrift in die zeitgenössische Auseinandersetzung sind die Ausführungen von Frank Wulf in seinem Nachwort. Er beschreibt die konstitutive Grundvoraussetzung zur soziologischen Konfiguration des Zombis: "Wenn die Geschichte tot war, die Zukunft tot, das Subjekt tot, das Wissen tot, und es trotzdem irgendwie weder tot noch lebendig weiterging, dann bot es sich an, diesem Dauerzustand einen Protagonisten zugeben: Der Zombie war wie geschaffen dafür." (140)
Fazit
Das Buch liest sich als großartige Rehabilitierung eines ethnologischen Mythos, der zum sozialen Kulturem der Gegenwart wird und als soziologisches Phänomen Produkt der umfassenden "Verhartzung" der Gesellschaft ist. Dieses Produkt bevölkert die großen urbanen Elektronikmärkte. Dort finden jene das Rüstzeug zur Virtualisierung, die im realen Leben keine Rolle mehr spielen oder dazu verdammt wurden, gerade diese Nicht-Rolle spielen zu müssen. Zugleich also haben wir hier eine radikale kultur- und sozialkritische Anklage vorliegen. Es fragt sich, wie lange der bundesdeutsche Sozialstaat die Zunahme an Untoten in diesem Sinne noch versorgen und verwalten kann. Eine neue "zombinäre" Identität zumindest hat er ihnen inzwischen schon verordnet.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 09. November 2007

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