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Bernard Manin: Kritik der repräsentativen Demokratie

Kritik der repräsentativen Demokratie

von Bernard Manin
Verlag: Matthes & Seitz [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Politik
ISBN-13 978-3-88221-022-4

Preis: aktuell keine Daten vorhanden
Halbe politische Repräsentation oder wirkliche Demokratie

In einer 1935 verbotenen, inzwischen fast verschollenen aber seit 2005 wieder publizierten Schrift des Wissenschaftlers Ernst Niekisch (1889-1967) macht dieser anhand eines dualistischen Verhältnisses deutlich, wie Regierende und Regierte eines Staates einander bedingen und in Relation zueinander stehen: "Die Tat des Untertanen ist immer so groß oder so klein, so folgenschwer oder so unerheblich, so weitreichend oder so kurzsichtig, wie es die Anordnung der Obrigkeit ist, durch die sie ausgelöst wurde. Die Obrigkeit hat jeweils die Untertanen, die sie verdient; für alle Sünden und Unzulänglichkeiten der Untertanen trägt die Obrigkeit die ausschließliche Verantwortung." (Ernst Niekisch: Die dritte imperiale Figur, 1935, Neudruck 2005, S. 64)
Niekisch weist hier darauf hin, daß jegliches Mißverhalten, jegliches Vergehen und jegliche Straftat innerhalb eines Volkes und seinen Regierten stets nur ein Modus der Politik der Regierenden und eine analoge Spielart ihrer eigenen Vergehen an den Schaltstellen der Macht ist. Kurz und auf bundesdeutsche Verhältnisse der Gegenwart übertragen: Ohne einen "Extremismus" oder ohne Verbrechen und Korruption im Staate selber, der "Extremisten" oder Verbrecher zu definieren sich anmaßt, wäre die Existenz von politischen "Extremisten" und Übeltätern im Volke selber undenkbar. Man nimmt nur solche politischen Phänomene oder Unbehaglichkeiten wahr, deren negatives Potential man selbst besitzt und damit durch die Verortung dieser Phänomene außerhalb des Parlaments - außerhalb von sich selber - diese Eigenschaften bei sich feige und unreflektiert abstreitet. Dieses enttäuschende Bild liefern die repräsentativen "Demokratien" der Gegenwart.
Es handelt sich hier um eine wesentliche Neudefinition des Verhältnisses von Regierenden und Regierten, von etablierter Politik und neuen politischen Befindlichkeiten im Volke, die infolge ihrer aufkeimenden Aktualität eine notwendige Neureflexion über das Selbstverständnis von repräsentativer Demokratie überhaupt mit sich führt. Nur diese Staatsform definiert sich nämlich über ein spezifisches Verhältnis von Regierenden und Regierten, von Volk und Staat. Sie zeichnet sich aber gegenwärtig trotz der Notwendigkeit dieser Neureflexion durch eine selbstimmunisierende Tendenz aus: Vieles darf kritisiert werden - außer die "Demokratie" oder zumindest das, was sich hegemonial und "herrschaftsfrei" als solches ausgibt. So ist der "Demokrat" eine Karikatur der Freiheit, die er selber zu repräsentieren vorgibt. Seine repräsentative Regierungsform bedarf also einer unvoreingenommenen Analyse, um diesen Namen weiterhin zu verdienen. Diese liefert das vorliegende und mit dem Philippe-Habert-Preis ausgezeichnete Buch Bernard Manins, der, geboren 1951, Professor für politische Philosophie an der New York University ist.
Sein nüchterner Blick zielt auf das vermeintlich unantastbare Repräsentations-Axiom der Moderne, welches derselben im Sinne höherwertiger Fortentwicklung eigener Ansprüche und entsprechender Innovationen aber kaum noch Rechnung zu tragen scheint. Entsprechend kommt Manin zu einer erfreulichen Schlußfolgerung: Was wir heute unter "Demokratie" verstehen, ist Folge der Revolutionen in Amerika und Frankreich und galt niemals als eine "Regierung des Volkes", denn der Wahl der Repräsentativorgane wohnt eine systemimmanente aristokratische Wirkung inne. Manin beweist damit, daß Verfassungstheoretiker in der Repräsentativität ab 1789 keine Form der Demokratie sahen, da der Sieger bei Wahlen potentiell mit demjenigen Menschen übereinstimme, der genügend finanzielle Mittel zur Selbstinszenierung bei der Wahl hatte. Dies bestätigen nach Manin zum Beispiel die Theoretiker James Madison (1751-1836) in den USA oder Emmanuel Joseph Sieyès (1748-1836) in Frankreich.
Manin reflektiert auf diese Weise vermeintliche politische Selbstverständlichkeiten kritisch und benennt Dinge, die zu benennen es inzwischen überfällig geworden ist. Bei der repräsentativen Regierungsform seien die Bürger zwar Quelle politischer Legitimation, nicht aber selbst amtsberechtigt. Bis auf den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985), der diesen Antiegalitarismus bereits früh erkannte, ignoriert Manin hier jedoch die deutsche Demokratietradition des 19. Jahrhunderts. Er beweist zwar, daß die repräsentative Demokratie keine volkliche Selbstregierung, sondern ein System ist, in dem die Politik lediglich zum Gegenstand des Urteils der Wähler wird, wodurch die Reduzierung der Kluft zwischen Volk und Regierung aber unerreicht bleibt. Dennoch hätte er hier gerade die kontinentalen deutschen Projekte Fichtes und Hegels herausheben können, waren diese gleichwohl auf die reale und transzendentale Konvergenz von Regierenden und Regierten, auf Identität von Ich und Nicht-Ich im absoluten Ich, auf die Einheit von bürgerlicher Partizipation und politischer Repräsentation bedacht. Die deutschen Theoretiker wußten bereits früh, was heute unleugbar gespürt wird und wofür der in dieser Tradition des Deutschen Idealismus stehende Sozialphilosoph Johannes Heinrichs, geboren 1942, für die Gegenwart in seinen Schriften Zeugnis abliefert: Parteien und erst Recht Massenparteien als alleinige willensbildende Konfigurationen haben den Niedergang des Parlamentarismus als solchen bewirkt.
Konzentriert sich Manin leider nur auf Amerika, Frankreich und England, so wirkt am Ende das Nachwort des Autors zu dieser deutschen Ausgabe versöhnlich. Es bietet eine Auswertung erodierender Stammwählerschaften und eine auf empirischen Analysen beruhende Bewertung aktueller Entwicklungen wie diejenige der Massenmedien oder das Aufkommen vieler nicht-institutionalisierter politischer Partizipationsoptionen. Nach vollendeter Lektüre weiß der Leser, daß der repräsentative Populismus der Parlamentsparteien und seine dadurch selbst verursachte strukturelle Unsachlichkeit gegenüber neuen politischen Gedanken und Notwendigkeiten einer überfälligen sachlichen Kritik bedarf. Sie liegt jetzt mit dem Buch Manins vor. Dasselbe zeigt an, daß konstruktiv gemeinte Demokratiekritik Zukunft hat - und haben muß. Daniel Bigalke, Dipl.-Pol.
Fazit
Das vorliegende Buch Manins hinterfragt mit konstruktivem Anspruch vermeintliche politische Selbstverständlichkeiten und zeichnet sich damit durch eine erfrischende Denkweise jenseits permanent reproduzierter Phrasen aus. Es gehört in das Regal eines jeden Selbstdenkers.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 24. März 2007

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