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Philipp Mainländer: Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten. Eine Werkauswahl

Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten. Eine Werkauswahl

von Philipp Mainländer
Verlag: Manuscriptum-Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-933497-74-1

Preis: aktuell keine Daten vorhanden
Der Begriff der "wissenschaftlichen Begründung" des Sozialismus ist eine inflationär gebrauchte Phrase, die angesichts ihres zum geflügelten Wort gewordenen Wesens kaum mehr der Erwähnung würdig ist - ebenso ihr in Trier geborener und in London wirkender Initiator. Aber wie steht es um die wissenschaftliche Begründung des Atheismus? Ist so etwas denkbar? Diese Frage ist zu bejahen, denn seit Neuem rückt ein kurz gelebt habender und lange vergessener Philosoph in den Vordergrund zahlreicher Publikationen, deren wir hier eine zentrale vorliegen haben, die das Gesamtwerk desselben auf wenigen Seiten leserlich versammelt. Der Philosoph heißt Philipp Mainländer.


Nachdem der Berliner Privatgelehrte Winfried H. Müller-Seyfarth die Herausgabe der Mainländer-Gesamtausgabe absolvierte und im Rahmen der Gründung der "Internationalen Mainländer-Gesellschaft e.V." 2005 in Offenbach der Band "Was Philipp Mainländer ausmacht" erschien, liegt hiermit ein optimaler Werksquerschnitt zur Einführung vor. Ulrich Horstmann, der Herausgeber, hat vor allem durch seine Streitschrift "Das Untier" (1983) eine Bekanntheit erlangt. Mit seiner bereits 1989 im Insel Verlag vorgelegten und hier noch einmal ergänzten Auswahl aus dem Werk des Offenbacher Philosophen Mainländer betont Horstmann nochmals sein Anliegen: Das Werk des Ausnahmemenschen Mainländer, der sich in der Nacht zum 1. April 1876, genau einen Tag nach dem Erscheinen seiner 1.300 Seiten umfassenden "Philosophie der Erlösung", das Leben nahm, muß gelesen, muß neu verstanden werden.

Der tragische Philosoph spürt den tiefsten Schmerz, der alle optimistischen Erklärungen des Daseins entwertet. Er erkennt Dissonanzen und Disharmonien. Er erkennt sie als unweigerliche "Realdialektik" (Bahnsen) an und akzeptiert die Hegelschen Synthesen nur auf der Ebene der Abstraktion. Trotzdem ist aus seiner Sicht tragische, oder besser, melancholische Dichtung von passivem Pessimismus genauso weit entfernt, wie von düsterer Todessehnsucht. - Genau das macht das vorliegende Buch lesenswert.


Kraft seiner unglaublichen Eingebung entwirft Mainländer die erste und einzige Metaphysik der Entropie, die in zahlreichen Punkten unser naturwissenschaftliches Weltbild vorwegzunehmen scheint. Gleich vorweg - es geht dabei nicht leichtredend um Irrsinn, Debilität und Lebensmüdigkeit, sondern um die Bereitschaft, die Widrigkeiten des Lebens tatsächlich zu erspüren und in eine Philosophie der Erlösung einzubetten. Und so läßt sich Mainländers Metaphysik der Entropie, des Verfalls, seine Wissenschaft des Atheismus so resümieren:

1. Gott wollte das Nichtsein.
2. Sein Wesen war das Hindernis für den sofortigen Eintritt in das Nichtsein.
3. Das Wesen, die vorweltliche Einheit, mußte zerfallen in eine Welt der Vielheit, deren zunächst lebendige Teile nach dem Nichtsein streben.
4. In diesem Streben hindern sie sich gegenseitig und kämpfen.
5. Die ganze Welt hat das Ziel des Nichtseins - sie unterliegt der kontinuierlichen Schwächung von Lebenskraft.
6. Jedes Individuum wird durch Schwächung seiner Kraft zu einem Punkte gebracht, wo seine Vernichtung erfüllt wird - unweigerlich. Das von Gott einst gewollte Nichtsein - nihil negativum - ist erreicht.

Wir durchschreiten also den Prozeß: Ursein - wirkliches Sein - Nichtsein. Gott erreicht erst durch den Weltprozeß sein vorher ersehntes Nichtsein. Der wissenschaftliche Atheismus ist - noch vor Nietzsche - begründet. Mainländer schreibt: "Der Atheismus, wie ihn meine Lehre begründet, (...), gibt dem großen Problem der Entstehung und Bedeutung der Welt, mit der Lösung zugleich auch die Erlösung." Zugegeben, ein solches Denken ist gewöhnungsbedürftig, aber Mainländer lebte des geradlinig, und das ist zu bewundern. Er setzte das Himmelreich gegen das absolute Nichts, vor dem er sich nicht fürchtete. Er nahm es mit Gleichgültigkeit hin, weil es ohnehin kommt. Sein Argument: "Wer das Leben verneint, verschmäht nur das Mittel desjenigen, welcher es bejaht; und zwar deshalb, weil er ein besseres Mittel als dieser zum gemeinsamen Zweck gefunden hat." Dieser ist also unweigerlich bei beiden dadurch, daß das Leben als Entropievermehrer wirkt, der Tod. Durch diesen Erlösungsgedanken lassen sich die Widrigkeiten des Lebens mit lächelnder Miene hinnehmen - oder mit Schopenhauer: durch die Kraft der intellektuellen Anschauung.


So ist es nur konsequent, daß Horstmanns Auswahl den Dichterphilosophen Mainländer wieder zugänglich macht und neben einschlägigen Kapiteln aus der "Philosophie der Erlösung" auch die Novelle "Rupertine del Fino" sowie die Tagebuchblätter "Meine Soldatengeschichte" versammelt. Es entsteht ein Reanimationsschub, den ein vitales Denken wie dieses trotz des Themas "Tod" verdient hat.

Einhundertzwanzig Jahre nach Mainländers Freitod ist die Menschheit desillusionierter als je zuvor. Das pessimistische Weltbild fügt sich in unsere katastrophenreiche Zeit gleitend ein. Mainländer ist der Prophet, der dem Menschen in nüchterner Klarheit die Bestätigung gibt, daß Hoffnung nur ein (gelebtes!) Prinzip sein kann. Er entscheidet sich nicht für den Glauben an eine Utopie, sondern für den an das Nichts. Sein Werk kann jetzt entdeckt werden. In ihm führt der Wille zum Leben unweigerlich zum Tode. Bleibt die Frage: Was führt dann zum Leben? Richtig: Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tode!
Fazit
Gewöhnungsbedürftig - aber definitv spannend!
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 22. September 2007

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