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Sean McMeekin: Juli 1914: Der Countdown in den Krieg

Juli 1914: Der Countdown in den Krieg

von Sean McMeekin
Verlag: Europa Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-944305-48-6

Preis: 29,21 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Im Rahmen eines Vortrages über die Juli-Krise 1914 stieß ich auf dieses Buch. Volker Berghahn, Autor des Buches: "Der Erste Weltkrieg" im Beck-Verlag schrieb, dass dieses Werk das Buch von Christopher Clark: "Die Schlafwandler" entscheidend beeinflusst habe. Dieser sei insbesondere in seiner Sicht der Rolle Russlands von McMeekins Buch inspiriert worden. Diese These hat vor McMeekin schon L.C.F. Turner und danach Edward McCullough vorgetragen. McMeekin sieht in dem Verhalten der russischen Führung in St. Petersburg den "Schlüssel" zum Ausbruch des ersten Weltkrieges. Insbesondere Außenminister Sergej Sasonow und die militärische Führung habe - gegen den anfänglichen Widerstand des Zaren Nikolaus II. - gezielt nach der Veröffentlichung des österreichisch-ungarischen Ultimatums auf den Krieg hingearbeitet. Die Vorbereitungen seien über die offizielle Teilmobilmachung der Armee hinausgegangen. Russland habe - ermutigt durch die Rückendeckung der französischen Führung (Staatspräsident Poncaré und Regierungschef Viviani hielten sich Ende Juli zu einem Staatsbesuch in St. Petersburg auf) das Attentat von Sarajewo zum Anlass genommen, einen großen Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zu provozieren und hätten Deutschland, Österreich-Ungarn aber auch Großbritannien über ihre Aktionen gezielt getäuscht, um letzteres auf ihre Seite in den Krieg zu führen.
Berghahn schreibt in seinem Buch: "Für den Autor [McMeekin, B.N.] sind also die vier Tage vom 26. bis zum 29. Juli entscheidend, für die er als Beweismittel für seine Interpretation eine ganze Reihe von Dokumenten und späteren Aussagen heranzieht. Anhand dieser weist er scharfsinnig und durchaus überzeugend nach, dass im Westen des Landes [Russland, B.N.] sehr viel umfangreichere miltiärische Maßnahmen ergriffen wurden, die einer Vollmobilisierung gleichkamen. Nicht weniger wichtig ist, dass diese Entwicklungen der deutschen Seite bekannt wurden, sodass diese den Versicherungen Sasonows [...] nicht mehr glaubten. Mit anderen Worten, McMeekin zufolge wussten Generalstabschef Helmuth von Moltke und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg schon vor der offiziellen Verkündung der russischen Vollmobilisierung am 31. Juli, dass St. Petersburg das Ziel eines großen Krieges verfolgte. Daraufhin drängte jetzt Molkte mehr denn je den Kaiser, die eigene Vollmobilisierung zu befehlen, bevor es zu spät sei. Dies bildete den Hintergrund des deutschen Ultimatums an Nikolaus II., seinen Befehl bis zum 1. August zurückzuziehen. Als dies nicht geschah, weil es infolge der schon längst angelaufenen Vorbereitungen gar nicht mehr möglich war, unteschrieb der Kaiser am Nachmittag des 1. August den entsprechenden deutschen Befehl. Der große Vorteil dieser Abfolge war, dass Berlin sich nun rechtfertigen konnte, sich in einem Verteidigungskrieg gegen Russland zu befinden. So erklärt sich auch der Satz aus dem Tagebuch des Marinekabinettschefs Georg Alexander von Müller, die Reichsleitung hab "eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen."

Doch warum zielte das Zarenreich auf einen großen Krieg gegen die Mittelmächte? Hier sind für McMeekin die seit Langem formulierten und nun zu verwirklichenden Kriegsziele zentral. Seit Jahren schon habe das russische Außenministerium die territoriale Expansion nach Süden und Südwesten und den Zugang zum Mittelmeer durch eine Eroberung der Dardanellen anvisiert. Zum Teil auf russischen Quellen basierend, entwickelt der Autor das Bild einer bewusst verfolgten und langfristig gut koordinierten imperialistischen Politik St. Petersburgs, die auf eine Beerbung des zerfallenden Osmanischen Reiches abzielte.

An dieser Stelle ist auf ein Buch über die russische Außenpolitik zu verweisen, das Dominic Lieven demnächst veröffentlichen wird. Darin widerspricht er McMeekin, indem er - beruhend auf einer kürzlichen Auswertung von einschlägigen Archiven in Moskau - ein hartes Gegeneinander mit zahlreichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb und zwischen den Ministerien während er Vorkriegsjahre herausarbeitet. Diese Konflikte sieht er wiederum vor dem Hintergrund einer breiteren Diskussion über die Lebensfähigkeit des Zarenreiches, dem es nicht gelang, grundlegende modernisierende Reformen durchzusetzen. Es gehörte daher zu den Ländern, die sich nicht selbstbewusst im Aufstiegbefanden, sondern vom Zerfall bedroht waren."

Soweit Volker Berghahn (Quelle: Der Erste Weltkrieg. - Beck-Verl., 2014 (3., aktualis. Aufl.), Prolog, S. XII-XV).

Diese Zusammenfassung des Inhaltes von McMeekins Werk ist zutreffend. Zwar relativiert er - im Gegensatz zu Clark - nicht die deutsche Verantwortung am Ausbruch der Juli-Krise. Auch McMeekin kritisiert den unkonditionierten "Blankoscheck" Deutschlands an Österreich-Ungarn am 5. Juli 1914 im Zuge der Hoyos-Mission. Außerdem kritisiert er, dass Bethmann-Hollweg Vermittlungsvorschläge des eigenen Kaisers Wilhlems II. nicht oder zu spät nach Wien übermittelten (etwa den "Halt-in Belgrad"-Befehl) und auf Vermittlungsvorschläge Großbritanniens nicht eingingen, wobei er - wie später auch Clark - mit der britischen Politik in der Juli-Krise hart ins Gericht geht. Großbritanniens Außenminister Edward Grey habe - weil er für ein Zusammengehen mit den Entente-Mächten Russland und Frankreich zunächst keine Mehrheit im britischen Kabinett gefunden habe - Deutschland zu lange im Glauben gelassen, England würde in einem künftigen Krieg zwischen Deutschland und Österreich einerseits und Russland und Frankreich andererseits neutral bleiben. Es sei allerdings die Dummheit der Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland gewesen, der letztendlich das britische Kabinett am 4. August dazu brachte, auf Seiten der Entente-Mächte in den Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn einzutreten.

Das Buch ist äußerst spannend zu lesen. Es konzentriert sich auf die Diplomatie- und Ereignisgeschichte des Juli 1914 und führt auch die zahlreichen Quellen zur Krise auf, insbesondere die Edition von Albertini, die 2005 zwar ins Englische, aber bislang leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Um seine These eines russisch-französischen Zusammenspiels zu dokumentieren, verweist er insbesondere auf eine Studie über die französische Politik in der Juli-Krise von Stefan Schmidt.

Dies ist alles sehr gut recherchiert und belegt. Von daher ist das Werk eine unverzichtbare Quelle über die Ereignisse des Julis 1914.

Mein Problem mit diesem Buch ist allerdings der Fokus, den McMeekin auf den Faktor russische Mobilmachung legt. Für ihn ist dies der Schlüssel zum Ausbruch des Krieges der Punkt, an dem eine friedliche Lösung der Krise nicht mehr möglich gewesen ist. Ähnlich argumentiert auch Christopher Clark.

Meines Erachtens ist aber Jörn Leonhard zuzustimmen, der in dem meines Erachtens besten Buch über den Ersten Weltkrieg ("Die Büchse der Pandora", Beck-Verlag) argumentiert, entscheidend sei gewesen, wo der Schlüssel zur Deeskalation der Krise gelegen habe. Und Leonhards Ansicht nach lag dieser Schlüssel in Deutschland und in Großbritannien. Deutschland hätte den unkoditionierten Blankoscheck an Österreich-Ungarn nicht geben dürfen; England wiederum hätte stärker auf Russland und Frankreich einwirken sollen, wegen Serbien keinen Krieg zu riskieren.

Ich teile die Auffassung von Annika Mombauer, die in ihrer Publikation über die Juli-Krise 1914 (Beck-Verlag) die Hauptverantwortung nach wie vor bei Deutschland und Österreich-Ungarn sieht. Nicht die russische Generalmobilmachung, sondern der deutsche Blankoscheck an Österreich-Ungarn und danach die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, die ohne die deutsche Rückendeckung nie erfolgt wäre, sind aus meiner Sicht die Ereignisse, die den Weltkrieg unabwendbar machten, zumindest einen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland einerseits, Russlands, Frankreichs und Serbiens andererseits. Die britische Neutralität wäre ohne - modifizierten - Schlieffenplan sicherlich dann möglich gewesen, wenn Deutschland nicht in Belgien eingefallen wäre oder einfach Russland und Frankreich nicht den Krieg erklärt hätte, sondern deren Kriegserklärungen einfach abgewartet hätte. Mit Thomas Nipperdey und anderen Historikern ist dies die maßgebliche "Schuld" des Deutschen Reiches: Blankoscheck an Österreich-Ungarn, vorzeitige Kriegserklärung an Russland und Frankreich sowie die Verletzung der belgischen (und luxemburgischen) Neutralität, um über diese Länder mit seinen Truppen in Frankreich einzufallen. Aus meiner Sicht - und ich folge hier den Historikern Krumeich, Mombauer und Berghahns, ist die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der entscheidende Eskalationspunkt, der den Krieg unabwendbar machte. Die deutsche Hoffnung, den Krieg "lokalisieren" zu können, war zunichte. Die Ausweitung des Krieges auf die europäischen Großmächte "wurde indessen zur Gewissheit, als Österreich-Ungarn am 28. Juli den Angriff auf Serbien unter dem Vorwand einleitete, dass Belgrad das Ultimatum nicht erfüllt habe." Hier - und nicht in der russischen Generalmobilmachung - sehe ich den Schlüssel zum Krieg und kann Sean McMeekin daher in seinen oben skizzierten Schlussfolgerungen nicht zustimmen.
Fazit
Dennoch ein äußerst interessantes, spannendes und lesenswertes Buch zum Thea, vor allem, wenn man den Einfluss bedenkt, den dieses Werk offensichtlich auf Christopher Clarks "Schlafwandler" gehabt zu haben scheint.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne

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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 11. Juli 2014

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