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Ulrike Sterblich: Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West)

Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West)

von Ulrike Sterblich
Verlag: Rowohlt Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-499-62840-5

Preis: 14,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Kurz nach der Wende konnte man am Freizeitverhalten Berliner Studenten ihre Herkunft erkennen. Die aus dem Westen Zugezogenen waren am Abend in Kneipen und Clubs in Prenzlauer Berg unterwegs, während ihre Berliner Kommilitonen mit dem Ostteil der Stadt noch fremdelten. Die Identitätskrise der Westberliner ist verständlich, war doch für sie fast 30 Jahre lang rund um die Stadt "Osten" gewesen. Nur nach Antrag auf einen "Berechtigungsschein für den Empfang eines Visums" und 25DM Zwangsumtausch in Ostmark konnten Westberliner nach Ostberlin - für Schüler und Studenten ein teurer Spaß. Ihren nostalgischen Rückblick auf das ehemalige Westberlin hat Ulrike Sterblich (*1970) wie ein Stadtplan-Puzzle aus vielen Einzelteilen aufgebaut. Vom Lebensgefühl der Zwanzigjährigen kurz nach der Wende schlägt die Autorin eine elegante Kurve zu ihrer Schulzeit an einer katholischen Schule, auf ihre Sicht von außen während ihres Austauschjahrs im mittleren Westen der USA und zurück ins wiedervereinigte Berlin (zwei Städte gleichen Namens), das sie nach einem Jahr rasant verändert erlebte. Sterblichs Stadtrundgang folgt zunächst ihrem Schulweg per U-Bahn, später dem wachsenden Radius der Kino- und Fetengängerin in der Stadt. Bemerkenswert finde ich die Normalität dieser Jugend an einer katholischen Schule, die ihre konsequente Haltung gegen "Hitzefrei" selbst am Tag der Wende stur durchzog. Die Weltpolitik könnten die Schüler auch nach Schulschluss noch verfolgen, verkündete die Schulleitung. Einen Fixpunkt in Sterblichs Biografie bildet ihre katholische, kinderreiche Familie mütterlicherseits. Die Großeltern zogen in Neukölln (dem Neukölln, das heute öffentlich Heinz Buschkowsy vertritt) in einer Zweizimmerwohnung acht Kinder auf. "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" nimmt die Autorin als Unterrichtsstoff wahr, der trotz der allgegenwärtigen Fixer in der U-Bahn mit ihrem Leben wenig zu tun hat. Sehenswürdigkeiten, die man als Weltstädter stolz Besuchern zeigt, und die durch den Mauerbau entstandene bizarre Zwischenwelt aus ungenutzten Bahnanlagen fügen sich zu einem Berlin-Bild, das dem eines alternativen Reiseführers nahekommt. Das "Kalunk, Kalunk" der Transitautobahn und Rutschpartien auf Filzpantoffeln im Schloss Charlottenburg stehen stellvertretend für Berliner Kindheiten der 80er Jahre. Auch die Begegnung mit Sterblichs Mutter hat hohen Wiedererkennungswert. Die Diskussion, warum die Tochter ohne Winterstiefel in die USA gefahren ist, wird ähnlich in vielen Mutter-Tochter-Beziehungen ablaufen. "Mama hier geht niemand zu Fuß, hier braucht man keine Stiefel" - der interkulturelle Horizont ist auch bei einem Besuch im mittleren Westen der USA erweiterbar.
Fazit
"Schön wa?", fragt der Berliner - für "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt" gilt das unbedingt.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne

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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 04. Oktober 2012

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