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Nina Horvath (Hrsg.): Die Schattenuhr

Die Schattenuhr

von Nina Horvath (Hrsg.)
Verlag: Blitz-Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Horror
ISBN-13 978-3-89840-324-5

Preis: aktuell keine Daten vorhanden
Es hieße, Eulen nach Athen zu tragen, den Schriftsteller Edgar Allan Poe vorzustellen, der wie kein anderer die Kriminalliteratur und die Phantastik bis hinein in unsere Tage geprägt hat. Zweifellos ist es eine enorme Herausforderung für jeden Autor und Herausgeber, sich dem Anspruch dieses großen Namens zu stellen. Die junge österreichische Herausgeberin und Autorin Nina Horvath hat diesen Schritt gewagt und eine Anthologie deutschsprachiger Autoren vorgelegt, die sich ausdrücklich in der Tradition des Altmeisters sieht.
Das 230 Seiten umfassende Hardcover aus dem BLITZ-Verlag besticht bereits durch seine äußere Gestaltung. Die Coverillustration von Zdzislaw Beksinski harmoniert perfekt mit Farbe und Schriften des Umschlags und der ebenfalls sehr ansprechenden Innenillustration von Mark Freier.
Den Reigen der Geschichten eröffnet der österreichische Autor Andreas Gruber mit "Rue de la Tonnellerie". Die Erzählung schildert die Ankunft des jungen Richard Wagner und seiner Ehefrau Minna im Paris des Jahres 1840, wo er unter anderem auf die Unterstützung Heinrich Heines hofft, der im dortigen Kunstbetrieb bereits etabliert ist. Wagner selbst befindet sich seit der Abreise aus Riga in einer Schaffenskrise, die die desolate wirtschaftliche Situation des Paares noch verschärft. Schließlich besucht er auf Einladung Heines das Cafe Juliette in besagter Straße und trifft dort auf eine Reihe prominenter Künstler wie Berlioz, Balzac, Dumas und Victor Hugo. Auch ein Amerikaner ist vor Ort, dessen Beschreibung durchaus auf Edgar Allan Poe zutreffen könnte. Heine stellt Wagner der Künstlergesellschaft vor und er darf diese zu einem geheimen Treffpunkt begleiten, wo sie auf eine dominante weibliche Persönlichkeit treffen, die sich Madame Sorce nennen läßt und über wahrhaft visionäre Fähigkeiten verfügt. Dort lüftet sich auch das Geheimnis der künstlerischen Kreativität der Anwesenden. Das alles ist glaubhaft und stilsicher geschildert und bildet somit einen äußerst gelungenen Auftakt.
"Die steinerne Bibliothek" von Matthias Falke schildert zunächst die etwas ungewöhnliche Beziehung des Ich-Erzählers zu einer jungen Frau, die erst mit seiner Unterstützung das Lesen und Schreiben erlernt. Er muß die junge Smera allerdings zurücklassen, als er sich auf eine wissenschaftliche Expedition begibt, die ihn zusammen mit einem ehrgeizigen Forscherteam zu den Felsenklöstern von Loulan führt. Durch eine stattliche Zuwendung gelingt es den Wissenschaftlern, den Hüter des Ortes, einen alten Mönch zu überzeugen, sie durch das Höhlenlabyrinth ans Ziel zu führen - eine unterirdische Kammer, die er selbst als "Mittelpunkt des Universums" bezeichnet. Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine Art Bibliothek, die aus Tausenden im Sand vergrabener Mamorstelen besteht. Die Stelen sind mit eingravierten Symbolen bedeckt, die keine Schriftzeichen, sondern Symbole darstellen, deren Entschlüsselung eine Sisyphusaufgabe darstellt. Schließlich finden die Forscher auch die sogenannte "Master-Stele", deren Beschriftung eine düstere Prophezeiung darstellt, die sich alsbald bewahrheitet. Auch wenn die Liebesgeschichte nur mittelbar mit dem Geschehen in der Bibliothek zusammenhängt, überzeugt auch diese Geschichte inhaltlich und sprachlich.
"Jenseits des Hauses Usher" von Markus K. Korb beginnt vielversprechend mit der Entdeckung eines Buches von Roderick Poe, dem Bruder des berühmten Literaten. Dort findet sich neben einer Reihe inhaltlich und literarisch wertloser Abenteuergeschichten auch Material aus Rodericks kartographischer Tätigkeit. Auf einer der Karten Neuenglands findet sich der Verweis auf einen Ort namens Usher, dessen Erwähnung den literaturkundigen Ich-Erzähler sofort elektrisiert. Birgt der in der Karte eingezeichnete See tatsächlich die Überreste des untergegangenen Hauses Usher? In der Art einer Tagebuchaufzeichnung werden die Versuche des Protagonisten geschildert, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, was schließlich auf unerwartete Weise gelingt. Die Idee ist faszinierend, die Umsetzung leidet allerdings ein wenig an der etwas kurzgefaßten Schilderung des Umfeldes und einigen stilistischen Ungenauigkeiten, die zumindest meinen Lesefluß gelegentlich unterbrachen.
Olaf Kemmler legt mit "Zu Gast bei Meister Pforr" eine atmosphärisch stimmige und an den Stil von E.T.A. Hoffmann oder Wilhelm Hauff gemahnende Erzählung vor, in der es um einen vermeintlichen "Hexenmeister" geht, um dessen Wirken sich zahlreiche Gerüchte ranken. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht des reisenden "Schreiberlings" Carl Friedrich Cotta, der nach einem unbedachten Kommentar zur französischen Revolution in das offenbar schon damals vorhandene Ressort "Klatsch und Tratsch" abgeschoben wurde. In der Postkutsche nach Heidelberg erfährt er von dem jungen Fräulein Friedenthal, das in Begeleitung seiner Tante unterwegs ist, von einem verrufenen Ort, einem abgelegenen Dorf in den Wäldern, in dem besagter Hexenmeister sein Unwesen treiben soll. Während einer Rast hört sich Cotta bei den Anwohnern um und erfährt allerlei Ungereimtes und Grausliches über die verwunschene Ortschaft. Kaum einer, der dorthin gegangen sei, wäre jemals zurückgekehrt, und wenn doch, dann wäre er danach kaum wiederzuerkennen. Angeblich soll der Diener des Teufels den Menschen sogar das Herz herausschneiden, um es in Maschinen einzubauen, die danach ein Eigenleben entfalten würden. Den unglückseligen Opfern würde er statt dessen ein Uhrwerk einpflanzen. Als Cotta schließlich sogar auf eine konkrete Spur stößt, verläßt er die Reisegesellschaft und macht sich auf den Weg nach Kainswinkel, wo ihm tatsächlich die merkwürdigsten Dinge widerfahren. Auch diese Geschichte überzeugt durch viele liebevolle Details und eine einfühlsame Schilderung der Zeitumstände zwischen Aberglauben und Moderne.
Den Abschluß bildet die titelgebende Erzählung "Die Schattenuhr" des leider früh verstorbenen Autors Michael Knoke. Die Geschichte folgt den Aufzeichnungen eines gewissen Robert Thompson, der sich im Jahr 1888 auf den Weg zum einsam gelegenen Anwesen seines Bruders George und dessen Frau Claudine macht. Seit ihrer letzten Begegnung sind einige Jahre ins Land gegangen, und wie sich alsbald herausstellt, hat sich inzwischen einiges verändert. Das Haus ist düster, die meisten Fenster sind auch tagsüber verhängt, und der Garten und der angrenzende Waldfriedhof strahlen eine unheimliche Atmosphäre aus. Claudine und George wirken blaß und kränklich und verhalten sich seltsam abweisend. Robert erfährt, daß das Haus in der Vergangenheit zumeist von obskuren Künstlern und Esoterikern bewohnt wurde, die kaum Kontakt zur Außenwelt pflegten. Die meisten waren auf dem Waldfriedhof begraben. Bald gewinnt er den Eindruck, daß das Haus auch George und Claudine auf unheimliche Weise verändert hat, aber die beiden weichen seinen Fragen aus und vertrösten ihn auf das bevorstehende "Fest", dem sie regelrecht entgegenfiebern. In der Bibliothek stößt Robert auf die Aufzeichnungen des Uhrmachers Tom Wilson und erfährt von dessen Lebenswerk, der sogenannten "Schattenuhr", einem magischen Mechanismus, der auf die "Gezeiten des Universums" reagiert und angeblich zeitweise eine Brücke zwischen Diesseits und Jenseits zu bilden vermag. Die Schattenuhr schlägt angeblich im "Herz des Hauses", doch erst als das Haus auch Robert in seinen Bann gezogen hat und das Fest beginnt, offenbart sich ihm ihr Geheimnis. Die Schattenuhr ist eine klassische Horrorgeschichte und inhaltlich und stilistisch vielleicht am dichtesten mit dem Werk des Altmeisters verbunden. Die von Beginn an unheilschwangere Atmosphäre beherrscht nicht nur den Ort, sondern auch das Denken und Handeln der Protagonisten. Es gibt keinen Ausweg, keine Rückkehr ins normale Leben - eine Botschaft, wie sie auch für Leben und Werk von Edgar Allan Poe typisch ist.
Fazit
Insgesamt bleibt zu konstatieren, daß Herausgeberin und Verlag mit der "Schattenuhr" ein Buch gelungen ist, das insgesamt sowohl inhaltlich als auch gestalterisch zu überzeugen vermag.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne

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Vorgeschlagen von frankh [Profil]
veröffentlicht am 21. Dezember 2011

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