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Stefan T. Pinternagel: Fragmente

Fragmente

von Stefan T. Pinternagel
Verlag: Atlantis-Verlag, Stolberg [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-936742-28-2

Preis: 5,58 Euro bei Amazon.de [Stand: 23. April 2024]
Das Buch ist gut, sehr gut! Das steht fest. Dem scheinbar widersprechend möchte ich am liebsten den Autoren fragen: Warum hast du das Buch geschrieben, warum über ein solches Monstrum? Gibt es diesen "Menschen" in der Realität (allerdings werden wir sehen, dass es IHN gar nicht geben muss, da er eine Zunft repräsentiert, die viel zu viele Mitglieder zählt und weit verbreitet scheint)? Wer soll dieses Buch lesen? Menschen, die sich für Serienmörder interessieren, gar begeistern? Menschen, die sich einfach mal ordentlich ekeln wollen? Menschen, die nach der Lektüre sagen wollen: "Pfui, was für ein Monstrum!" (wobei unklar bleibt, wen sie damit meinen).
Ja, was hat dich, Stefan T. Pinternagel, an diesem Thema gefesselt, damit du dieses umfangreiche, wohl durchdachte, sicher aufwändig recherchierte Buch schreiben konntest?
Dabei ist der Autor gar nicht vom "Fach": Sein Oeuvre umfasst bis dato Lyrik, Gegenwartserzählungen, SF, auch Horror - so weit ich weiß. Auch dieses Buch ist Horror, aber ohne phantastische Elemente, dazu fast dokumentarisch, zumindest durchsetzt mit dokumentarischen Elementen.

Der Ich-Erzähler ist ein Serienmörder, und er weiß es, kann sich also nicht herausreden, er wäre schizophren, und der "Andere" wäre der Täter; und er ist Sadist und Kannibale, so wie wohl viele dieser Serienmörder, die Menschen töten ohne Motiv. D.h., Gründe zum Töten haben sie alle, so auch dieser Typ, der sich erst ganz zum Schluss eine Art Namen gibt: "Holiday Killer". Sein "Motiv" ist in erster Linie sexueller Natur, ihm geht einfach einer ab, wenn er einen Menschen quält, foltert, erniedrigt, tötet. Und er erklärt dem willigen Leser weltanschauliche "Motive", indem er zivilisationskritisch über die Menschen richtet, zu denen er sich selbst und seinesgleichen (die Serienmördermonster dieser Welt) nicht zählt. Wir Menschen werden nur als Schweine, oder noch entfremdeter, als "Dinger" bezeichnet, denen er quasi noch einen Gefallen tut, indem er sie von ihrem tristen Dasein erlöst.
An Einzelheiten und Details wird nicht gespart; da der Erzähler auch der Täter ist, der sich jenseits unserer Moral und Ästhetik bewegt, wird das Zerstückeln, das Quälen, Zubereiten etc. fast nüchtern berichtet.
Warum erzählt er eigentlich das alles? In der Geschichte ist der Holiday Killer ein einsamer Mensch, der sich seiner "Heldentaten" nicht rühmen kann, da er ja sonst gefasst würde. Also legt er diesen Bericht ab, der vielleicht eine Beichte werden sollte, aber er hat nichts zu bereuen, er braucht keine Absolution; Gnade hätte er ohnehin nicht verdient.
Also erzählt er, wie er in einem abgelegenen französischen Dorf ein gelangweiltes deutsches Touristenpaar aufgabelt, sie unter Vorwand in sein Feriendomizil, ein abgelegenes Gehöft, lockt, sie dort ... Nun ja, das müsst ihr schon selber lesen. Dazwischen, immer, wenn die Folterungen einem vermeintlichen Höhepunkt entgegen gehen, oder ein Spannungsbogen anderer Art aufgebaut wird, driftet er ab in Erinnerungen: Kindheit, Jugend, erstes Morden, besondere Morde. Dazu fast philosophische Gedanken, die man einem kritischen Intellektuellen zuschreiben könnte, der der Autor sicher ist. Da wird es fast plausibel, warum ER mordet. Aber nein, Mitleid, Verständnis etc. kann man eigentlich doch nicht mit IHM haben. Aber ich gebe es zu, es ist wie ein Sog, der einen bis zum Schluss in Atem hält. Dort stößt man dann auf den einzigen echten Schwachpunkt des Romans: Es wird keinen Höhepunkt geben; das Morden endet klarerweise mit dem Tod, der Mörder wird nicht gefasst, das Grauen kann weitergehen.

Und genau das ist auch die große Stärke des Romans: Der Leser wird sich einer latenten Unsicherheit bewusst. Wir leben in einer Gesellschaft, die uns vor uns selbst schützt; man kann sich in ihr arrangieren, kann in ihr leben (spannend oder langweilig, wie es einem passt, wie er / sie es hinbekommt). Aber diese Monster, die aus keiner fremden Dimension kommen, nicht aus dem Weltraum oder aus einer anderen Zeit, sind unter uns, leben als gute Nachbarn, sind hilfsbereit, nett, folgen in bürgerlichen Anstellungen einer Lebenslinie, die die eigene sein könnte. Das bringt ER im Text zum Ausdruck, direkt, aber auch latent, gerade auch durch dieses offene Ende: Er wird nicht gefasst, er macht weiter.

Stefan T. Pinternagel ist ein Könner, er kann beschreiben, Umstände, Begebenheiten packend und anschaulich beschreiben; man ist als Leser mittendrin. Und er schreibt spannend, gut. Die Sprache des Serienmörders ist kultiviert, außer, wenn er auf der Jagd ist, erregt, geil, dann mischen sich Fäkal- und Vulgärsprachfetzen dazu, immer mehr, bis der Knoten platzt.
Der Roman ist mehr als Unterhaltung (wie man tatsächlich davon unterhalten sein soll, ist die Frage; ich war eher betroffen, schockiert, baff und gepackt), er macht mit dem Phänomen "Serienkiller" auf umfassende Weise bekannt. Der Holiday Killer listet in seiner Erzählung "Kollegen" auf, ihre Taten, Motivationen, ihr Ende. Ganz am Schluss gibt es eine Liste mit allen (?) Namen bekannter Serienkiller und der Zahl ihrer (wahrscheinlichen) Opfer.
Schließlich frage ich mich (und den Autor): Wie kann man das Denken und Fühlen eines solchen Monstrums nachvollziehen; wie kann man sich in so einen Typen hineinversetzen? Ist das authentisch, was ich da gelesen habe?
OK, ich kann das Buch allen empfehlen, die meinen, starke Nerven dafür zu haben; kurz nach oder vor dem Essen sollte man allerdings darauf verzichten.
Die im Text auftauchenden Fragen sind nicht (nur) rhetorischer Natur, denn sie fanden Antworten beim Autor, Stefan T. Pinternagel:
"Ich bin sehr froh, dass du Fragen an mich stellst, damit ich erklären kann, was mich zu diesem Roman "getrieben" hat. Zum einen natürlich mein Interesse an Serienkillern. "CyberJunk" (bzw. "Im Netz", wie der Roman bei GOBLIN-Press hieß) behandelt ja auch das Thema Serienkiller, wenn auch nicht so intensiv wie "Fragmente". Trotzdem spiegelt sich auch in dieser utopischen Geschichte mein Versuch wider, zu verstehen, wie jemand zum Mörder, bzw. zum Serienmörder werden kann.
"Fragmente" erscheint mir als die konsequente Weiterführung dieser Überlegungen. Das Thema hat mich seitdem nicht mehr losgelassen und ich plane auch für die nächsten Jahre, mich an einem Theaterstück über den deutschen Serienmörder Peter Kürten, "Der Vampir von Düsseldorf", zu versuchen.
Ja, das Buch ist brutal und - wie ich hoffe und auch immer wieder bestätigt bekomme - abstoßend, und eben das soll es auch sein! Denn Serienkiller und ihre Taten sind brutal und abstoßend, sie haben nichts mit den sterilen Hollywoodmördern zu tun, die Opfer gehen nicht einfach mal so schnell über den Jordan, sie leiden! Mich hat es immer schon aufgeregt, wenn z.B. in einem Western ein Indianer mit einem Pfeil auf einen Cowboy schießt (ihn womöglich noch in den Bauch trifft) und der sofort tot umfällt. Rühmliche Ausnahme eines solchen Unsinns ist "Der mit dem Wolf tanzt". Genauso habe ich mich immer über die Morde der Serienkiller geärgert, die Ruckzuck einem Menschen die Kehle durchschneiden und der fällt um und ist tot. Wie lange lebt man noch, wenn einem die Kehle aufgeschnitten wird? Wie lange fühlst du das Blut zwischen deinen Händen, wenn du instinktiv versuchst, die klaffende Wunde zuzuhalten? Wie ist es, wenn du dein eigenes Blut schmeckst, wenn es vielleicht sogar in die Lunge rinnt und dich röcheln lässt? Merkst du noch, dass der Mörder über dir steht und anfängt zu onanieren? Davon sieht man in den Filmen nicht viel. Das ist dann vermutlich auch der Grund, warum Serienkiller zu den neuen Idolen einer TV-orientierten Jugend werden können, warum es "cool" ist, ein Serienkiller zu sein. Und natürlich können sich auch die Erwachsenen der morbiden Faszination nicht entziehen. Und jetzt komme ich mit diesem schrecklichen Roman und nehme dem Leser den Glauben an einen schnellen Tod, an die heile Welt, in der er sich befindet. Ich zeige ihm eine andere Dimension, eine Dimension des Grauens, und das wirklich Schlimme daran: Es gibt diese Dimension tatsächlich! Darf ein Autor so weit gehen? Ich denke ja. Ich glaube, manchmal muss man so weit gehen, um den Menschen die Augen zu öffnen. Und ich hoffe, ich erreiche mit "Fragmente", dass die Leser in Zukunft Filme wie "Hannibal" oder "Natural Born Killers" mit anderen Augen sehen.
Das war mein Bestreben, als ich anfing "Fragmente" zu schreiben. Und noch ein weiteres, wenn auch sehr hohes Ziel, hatte ich mir gesteckt: Ich wollte etwas schreiben, das sich - zumindest ein wenig - mit Hubert Selbys "Mauern" messen kann. Dieses Buch war (und ist) für mich ein Schlüsselroman; niemals vorher habe ich beim Lesen eines Textes so viel Ekel, aber auch ein so perverses Vergnügen an kranken Gedankengängen empfunden. "Mauern" war sicher mit ein wichtiger Grund für "Fragmente" und ich kann das Buch nur jedem empfehlen, der an den Abgründen menschlicher Gewaltfantasien interessiert ist.
Zur Frage, wie ein Autor sich in das Denken und Fühlen eines solchen Monstrums hineinversetzen kann, kann ich nur sagen (ohne mich selbst anpreisen zu wollen), dass doch genau das der Punkt ist, der einen guten Schriftsteller ausmacht. Und wer weiß: Vielleicht schlummert in mir selbst ein Serienkiller, dem ich aber nur erlaube, auf dem Papier aktiv zu werden."
Fazit
Nichts für schwache Nerven!
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne

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Vorgeschlagen von Thomas Hofmann [Profil]
veröffentlicht am 17. Juli 2003

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