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Ma Jian: Peking Koma

Peking Koma

von Ma Jian
Verlag: Rowohlt Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-498-03232-6

Preis: 16,95 Euro bei Amazon.de [Stand: 18. April 2024]
Dai Wei wurde bei der Niederschlagung des Studentenprotests auf dem Pekinger Tiananmen-Platz 1989 von einer Polizei-Kugel getroffen und liegt seitdem im Koma. Der in seinem Körper begrabene Patient nimmt Gesprächsfetzen wahr und empfindet seine Umgebung mit wachen Sinnen, er kann sich jedoch nicht äußern. Bilder aus Gegenwart und Erinnerung, sowie Ausschnitte aus seinem Lieblingsbuch überlagern sich in Dai Weis Gedanken. Er erinnert sich an das Erdbeben von 1976, an seinen ersten Kuss und an seine Studentenzeit als er mit einem Kommilitonen gemeinsam im selben, raren Buch las. Dai Wai erinnert sich an seine Familie wie an den Kampf zweier verfeindeter Systeme. Die Kindheit des Studenten war geprägt von der zwanzig Jahre dauernden Lagerhaft seines Vaters und nach dessen Tod von den ewigen Ermahnungen der Mutter, aus dem Schicksal des "Rechtsabweichlers" seine Lehre zu ziehen. Während Dai Weis Vater sich für seine Söhne wünschte, dass sie ins Ausland gehen und zu Weltbürgern werden, kritisierte die Mutter, dass ihr Mann die Jungen damit nur auf dumme Gedanken bringe. Für die moralische Erziehung waren in der Familie Dai Revolutionsopern der Mao-Zeit zuständig. Das Ausmaß der Grausamkeiten während der Lagerhaft seines Vaters wird Dai Wei erst Jahre später beim Gespräch mit einem Zeitzeugen klar. Auch dass die Täter von damals heute wieder in bedeutenden Positionen anzutreffen sind, erkennt der junge Mann erst allmählich. Ein kleines Fenster zur nicht-sozialistischen Welt öffnet sich führ ihn während der kurzen Beziehung zu A-Mei, die aus Hongkong stammt und mit westlichen Werten aufgewachsen ist. Dai Weis Erinnerungen wandern zur Organisation des Studentenprotests auf dem Tiananmen-Platz. "Wenn der Kaiser die Herzen der Leute verliert, verliert er auch sein Reich" war damals ein Motto der protestierenden Studenten. Dass Dai Wei wegen seines "politischen Hintergrunds" nicht im Krankenhaus behandelt werden darf und seine Mutter mit der anstrengenden Pflege völlig allein gelassen wird, führt schließlich dazu, dass auch sie ihrem Land verloren gehen und ihre letzten Hoffnungen auf merkwürdige Wunderheiler setzen wird.

Das Bild vom nur formal sozialistischen Staat, der Einzelne aus der Gemeinschaft ausschließt, ist eines der anrührendsten in Ma Jians 900-seitigem Roman. Mithilfe des Tagebuchs seines Vaters setzt Dai Wei sich gegen den erklärten Willen seiner Mutter mit seinem Vater auseinander. Aktuelle Themen der Gegenwart wie Frauenhandel, Organhandel, die rigide Art mit der die Einkind-Familie von den Behörden durchgesetzt wird, die Lebensbedingungen chinesischer Studenten in den 80ern und der drohende Abriss der Hauses, in dem Mutter und Sohn als letzte noch ausharren, sind in die Handlung eingebunden. Dai Weis Mutter erhält außer Geldüberweisungen eines Verwandten keine Unterstützung. Im Gegenteil, sie ist Ziel von Bespitzelungen ihrer Nachbarn und wird regelmäßig am Jahrestag der Ereignisse von den Behörden drangsaliert. Dass sich der Zustand des Patienten kaum verändert und die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens voraussehbar sind, lässt die Handlung nur mäßig spannend wirken. Am Ende haben die Leser hinter die Kulissen der historischen Ereignisse schauen können und eine Vorstellung davon bekommen, wie die Aktivitäten nicht nur der 19 Universitäten der Stadt Peking sondern zahlreicher weiterer Proteste koordiniert wurden. Im sehr lesenwerten Nachwort erläutert Susanne Höbel, die Ma Jians Roman aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte, wie es zu der ungewöhnlichen Länge des Romans gekommen ist. (Brüder mit über 700 Seiten und Ein freies Leben mit über 600 Seiten sind ähnlich umfangreich.)
Fazit
"Peking Koma" erweist sich als anstrengende und dennoch lohnenswerte Lektüre, die in zwei stilistisch gegensätzlichen Handlungssträngen Einblick in bisher unbekannte Facetten des Lebens im China der letzten 20 Jahre gibt.
7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 28. September 2009

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