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Joyce Carol Oates: Wir waren die Mulvaneys

Wir waren die Mulvaneys

von Joyce Carol Oates (Biografie)
Verlag: Fischer Taschenbuchverlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-596-16386-1

Preis: 5,90 Euro bei Amazon.de [Stand: 28. März 2024]
Corinne Mulvaney hatte sich immer für ein Lieblingskind Gottes gehalten. Die Mulvanys leben in den 70ern des 20. Jahrhunderts mit ihren vier Kindern den amerikanischen Traum als Hobby-Farmer; den Lebensunterhalt verdient Vater Mulvaney als Dachdecker. Doch sie waren die Mulvanys, sie sind es nicht mehr. Etwas Schreckliches muss passiert sein. Hinter der düsteren Drohung, die über der Familienidylle schwebt, kündigt sich etwas noch Schrecklicheres an, das über zahlreiche Rückblenden und Perspektivwechsel hinweg die Leser in Atem hält. Aus der Erinnerung des jüngsten Sohnes Judd, der immer ein wenig zu jung war, um von den anderen ernst genommen zu werden, entfaltet sich der Niedergang der Mulvaneys. Als 17-Jährige war Marianne von ihrem Tanzpartner mit Alkohol abgefüllt, vergewaltigt und wie ein lästiges Paket ihrer besten Freundin vor die Tür gesetzt worden. Marianne fühlt sich schuldig, verschweigt die Tat und vertraut sich erst ihrer Mutter an, als der ganze Ort schon über sie tuschelt. Eine Anzeige verbietet sich von selbst, glauben die Mulvaneys. Sie sind überzeugt davon, dass der Täter sich auf Mariannes Einverständnis berufen wird und vor Gericht der Ruf des Opfers durch den Verteidiger des Täters endgültig ruiniert werden wird. Der Täter aus bester Familie kann sich darauf verlassen, dass seine Kumpel ihn nicht im Stich lassen und ihm ein Alibi geben werden. Zuhause schweigen die Mulvaneys eisern über die Tat, über "es". Die tüchtige, gläubige Corinne meint, ihren aufbrausenden Mann vor seiner Tochter und der deprimierenden Einsicht bewahren zu müssen, dass er beim Schutz seiner Familie versagt hat. Mariannes gesamte Familie wird zum Opfer, sie alle werden zukünftig geschnitten, das kleine Unternehmen von Vater Mulvaney, der nun nicht mehr "dazu gehört", muss Konkurs anmelden. Während Marianne ihre Opferrolle und das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit verinnerlicht, entgleitet ihrer Familie das Leben mehr und mehr bis sie schließlich zerbricht.
Fazit
Joyce Carol Oates hat sich in ihren Romanen wiederholt mit Gewalt, ihrer stillschweigenden Duldung, mit der Opfer-Rolle, dem Thema Strafe, Rache und Gerechtigkeit auseinander gesetzt. Der Erzähler Judd Mulvaney scheint sich mit dem Epos seiner Familie schließlich frei geschrieben zu haben. Wir können seine Entwicklung vom ahnungslosen Nesthäkchen bis zum Erwachsenen verfolgen und treffen die gealterten Mulvaneys Jahre später anlässlich einer Familienfeier zum amerikanischen Nationalfeiertag vereint wieder. An der geschilderten unseligen Verknüpfung aus provinzieller Enge, Religiosität amerikanischer Prägung und der Anmaßung weniger, entscheiden zu dürfen, wer dazu gehört und wer draußen zu bleiben hat, scheint sich seit den Siebzigern wenig geändert zu haben. Judds Einfühlung in seine Eltern und die Geschwister, aus deren Perspektive er etwas zu ausführlich erzählt, erscheint angesichts des jahrzehntelangen Schweigens unrealistisch, das Ende des insgesamt zu langen Familien-Epos kann nicht überzeugen. Dennoch wirkt Oates subtiles Psychogramm einer Dorf-Gemeinschaft und ihrer Reaktion auf eine Gewalttat in ihrer Mitte so beklemmend aktuell, dass man beim Lesen eine Gänsehaut bekommt.
7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 08. Januar 2009

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