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Ken Wilber: Integrale Spiritualität. Spirituelle Intelligenz rettet die Welt

Integrale Spiritualität. Spirituelle Intelligenz rettet die Welt

von Ken Wilber
Verlag: Kösel-Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-466-34509-0

Preis: 25,17 Euro bei Amazon.de [Stand: 20. April 2024]
"Die Menschheit befindet sich auf halbem Wege zwischen den Göttern und den Tieren." - Auf diese Aussage Plotins verwies der Philosoph Ken Wilber bereits 1997 in seinem Buch "Halbzeit der Evolution", in dem er nachweist, daß dem Menschen noch eine weitere Evolution seines Bewußtseins bevorstehe. (Ken Wilber, Halbzeit der Evolution. Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum kosmischen Bewußtsein, Frankfurt/M., S. 7) Mit seinem neuen hier vorliegenden Buch denkt Wilber seine These in den Bereich der Spiritualität hinein weiter, denn er prophezeit entsprechend jetzt, daß auf dem Wege der Höherentwicklung des menschlichen Bewußtseins die Entwicklung spiritueller Intelligenz unabdingbar ist.

Seit gut 20 Jahren ist die Descartes’sche Interpretation von "Selbst" und "Bewußtsein" in vielen Bereichen auf dem Rückmarsch. Schlagworte wie "Metaphysik" oder "New Age" beeinflussten bereits in den 1980er Jahren das Denken zahlreicher Skeptiker der herkömmlichen philosophischen oder naturwissenschaftlichen Branchen. Wilber befaßt sich nun konsequent mit der abschließenden Zusammenführung von Philosophie, Religion und Naturwissenschaft zu einer ernstzunehmenden Gesamtwissenschaft. Er stellt dabei die Bedeutung von Spiritualität in den Vordergrund. Seine diesbezügliche Denkrichtung ist als "Integrale Theorie" bekannt, als deren Manifest dieses Buch jetzt gelten kann.

Integrale Spiritualität soll - so Wilber - die Welt retten können. Er stellt dar, wie die Erleuchtung der östlichen Religionen vortrefflich kombiniert werden kann mit der Aufklärung des Westens, wie sie in der Entwicklungspsychologie zum Ausdruck kommt. Es bestätigt sich damit etwas, wofür Wilber steht: Es ist schon oft seine Leistung gewesen, höhere, spirituelle Bewußtseinszustände empirisch-wissenschaftlich zu untersuchen und zu gliedern - gerade unter Verwendung östlicher und westlicher spiritueller Schriften. Dies ist in der Tat ein lobenswerter und vor allem interessanter Ansatz, der sich in diesem Buch wieder bestätigt. Das neue Buch "Integrale Spiritualität" ist damit zugleich - wie bereits angedeutet - Fortsetzung und Bilanz seines Denkens: Bilanz, weil Wilber im ersten Teil nochmals sein früher schon entwickeltes Denkmodell (AQAL) erläutert (277), was vor allem für Erstleser von Vorteil ist; Fortsetzung, weil er das Modell durch weitere Dimensionen - eben die der Spiritualität - ausbaut.

AQAL ist sein theoretischer Ansatz zur Erfassung der Wirklichkeit. Wilbers Bewußtseins-Modell wird dadurch komplex und vernetzt. Es wird zu einem integralen Bewußtseins-System (279), das die Welt erfaßt, denn heute ist die Welt der Form nach enorm mannigfaltig, und sie entwickelt und entfaltet sich immer weiter. So muß sich die von ihm beschriebene Erleuchtung in gewissem Sinne in der Welt der Form, die sich ständig verändert, widerspiegeln. Es geht also darum, beides in einem integralen Bewusstsein zu vereinen und auch systematisch zu verkörpern.

Ein interessanter neuer Aspekt ist der Beziehungsraster zwischen evolutionärem geistesgeschichtlichem und spirituellem Bewusstsein. Die Erleuchtung ist ein mehrphasiger Prozeß, der je nach Entwicklungsstufe des Einzelnen differenziert ist. D i e Erleuchtung als solche gibt es also nicht, ebensowenig wie d e n Weg als solchen. Auch der Erleuchtete muß sich noch weiterentwickeln, z.B. horizontal (Einswerden mit allen Zuständen), wie vertikal (Einswerden mit allen Stufen). Damit bietet das Buch Wilbers interessante Definition der Erleuchtung als "Verwirklichung des Einsseins mit allen Hauptstufen und Hauptstrukturen (...)" dar. (337) Durch den integralen Ansatz bekommt auch Gott eine umfassende zeitlich evolutionäre Gestalt. Der Autor zeigt, daß Einheit und Dualität unlösbar miteinander verbunden sind. Im 10. Kapitel schlägt er eine Brücke zur Praxis. Er schreibt über die integrale Lebenspraxis jedes Einzelnen, welche die Ethik, Sex, Arbeit, Emotionen und Beziehungen umfaßt. (281)

Ken Wilber als bedeutender Vertreter der Integralen Philosophie und Spiritualität bearbeitet hier also Geistes- und Naturwissenschaften ebenso wie die Psychologie und das universelle Wissen der älteren Weisheitslehren. Das Buch ist Ergebnis seines in den letzten Jahren entwickelten integralen Modells, mit dessen Hilfe sich das ewig gültige Wissen, auch philsophia perennis genannt, auf alle Lebensbereiche anwenden läßt. Inmitten einer spezialistisch aufgesplitterten Philosophie- und Psychologieszene hat er auch hier wieder das Verdienst, das Ganze zu betrachten und konsequent zu denken. Er schließt damit von empirischen Forschungsergebnissen und einer New-Age-Mentalität her an die Tradition der philosophia perennis an und geht mit seinem "integralen" Denken über bisherige Grenzziehungen hinaus. Freilich ist eine solche Re-Integration ein anspruchsvolles Vorhaben. Und so bleiben einige Unstimmigkeiten beim Leser bestehen, auf die bisher trefflich der Sozialphilosoph Johannes Heinrichs hinwies und deren hier eine wesentliche benannt werden muß. (Johannes Heinrichs, Im Dialog über die Seele. Transpersonale Psychologie und christlicher Glaube, hrsg. von Michael Utsch/Johannes Fischer, LIT Verlag, Münster 2003, 77-112)

Wenn Wilber behauptet, daß das "Ich" oder das "Selbst" überhaupt eine bloße Objektivierung sei oder das "Selbst zum Objekt in meinem Bewußtsein" (180) werden könne, geht er nicht nur an der Einsicht des Augustinus und des Thomas von Aquin ("reditio completa in seipsum" - vollständige Rückkehr in sich selbst) vorbei, sondern auch an der systembildenden Grundeinsicht des traditionellen und von ihm geschätzten deutschen Idealismus, den er doch mit Hegel würdigt. (299) Das "Ich" ist vielmehr ein Vollzug, ein Tun, das ein Auge in sich birgt; es ist das Auge, das sich selbst sieht. Eben an dieser selbstbezüglichen (reflexiven) Einheit von Erkanntem und Erkennendem zerschellt der zweiwertige Dualismus von Subjekt und Objekt, dessen Versatzstücke Wilber auch im vorliegenden Buch noch vertritt. Reflexion - so auch Johannes Heinrichs - ist eben nicht bloß nachträglich-objektivierende ("nach-denkende"), sondern eine vorgängig gelebte, innere Reflexion. Und diese Reflexion ist konstitutiv für das Selbst oder die Person. Hier zeigt sich, daß Wilber sich nicht ausschließlich der Illusion hingeben sollte, alleiniger Apostel des "integralen" Denkens zu sein. Er steht auch neben Heinrichs und den berühmten Theosophen (H. P. Blavatsky, A. Bailey u.a.), die punktuell und in gewissen Bereichen ungleich weiter und tiefer gehen als Wilber. Wilber selbst bleibt manchmal trotz seines beanspruchten Integralismus in gelegentlichen Ausführungen über die politischen Richtungen wie Liberalismus oder Konservatismus (bzw. Kommunitarismus) und seine entsprechenden Syntheseversuche immer noch einem überholten Links-Rechts-Schema verhaftet.

Dennoch ist das vorliegende Buch für Einsteiger in sein Werk und Kenner seines Denkens sehr begrüßenswert. Es zeigt die Komponenten der integralen Lebenspraxis (Körper, Verstand und Geist) auf (277) und plädiert für den Wechsel von der alten Metaphysik hin zu "Integraler Post-Metaphysik" (363). Seine Erklärung: Die Moderne reduzierte die Ebenen des Selbst (Körper, Verstand, Seele, Geist) auf die unterste Ebene - die des Körpers oder auf rein physische Realitäten. Die Lösung liege also in der Reaktivierung der älteren Weisheitstraditionen. (365) Dabei betont er gerade, daß die objektiven Ebenen der Realität vom erkennenden Subjekt mit erschaffen werden, wobei wir unsere Zweifel an seiner These, daß das "Ich" selbst eine bloße Objektivierung sei, bereits anbrachten. Alle Ebenen der Realität jedenfalls sind in Wilbers Post-Metaphysik mit den Ebenen des Selbst verbunden. In der alten metaphysischen Tradition hingegen befand sich der Betrachter oftmals an einer von allem entkoppelten Stelle oder Ebene. Seine neue Post-Metaphysik "ersetzt Wahrnehmung durch Perspektiven und definiert (...) das manifeste Reich neu als Reich der Perspektiven." (68)

Mit diesem Buch hat Wilber - freilich nur in seinem eigenen Referenzrahmen - sein Ziel erreicht, die Spiritualität von einer metaphysischen Betrachtung zu lösen und sie zu einer integralen Erkenntnistheorie zu wandeln. Für alle an wirklicher Spiritualität Interessierten sowie für fortschrittliche uns selbständige Philosophen in Beruf, Alltag und Universität ist es deshalb ein Muß.
Fazit
Der vom Autor proklamierte Beginn eines postmetaphysischen Zeitalters als integrales Zeitalter (368) ist in jedem Fall des Erwägens und einer Lektüre wert, denn betroffen kann jeder Einzelne, wenn er selbst denkt, sein. "Der neue Mensch ist integral und das gilt auch für seine Spiritualität." (Wilber)
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne
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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 04. Januar 2008

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