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Werner Kunze: Philosophie für Neugierige. Geist, der die Welt bewegt

Philosophie für Neugierige. Geist, der die Welt bewegt

von Werner Kunze
Verlag: Verlagsgemeinschaft Grabert / Hohenrain [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-87847-226-1

Preis: 4,99 Euro bei Amazon.de [Stand: 27. März 2024]
Zeitenwende und neue Formen der Philosophie


"Verachte deiner Zeit geliebte Freuden. Mit kalter Lippe strafe ihre Ziele und ihres Pöbels feile Leiden. Sei stolz, daß niemand gleiches mit dir fühle! Und sondere deinen Sinn und deine Taten - Vergessenheit sei um dein Ende, auf dass dein Leben dir allein geraten, der Ruhm aus aller Mund nicht deine Tage schände." (Oswald Spengler, Zitiert aus: Anton Koktanek: Spengler in seiner Zeit, 1968, S. XXVIV.)

Diese tiefgründigen Worte können nur aus der Feder eines sein Prinzip lebenden Philosophen stammen, der nicht unbedingt inneruniversitärer weil für das praktische Leben folgenlos bleibender Scheinphilosophie anhängt. Der wissenschaftsgläubige Reduktionismus derselben verhindert heute oftmals das Reifen autonomer Persönlichkeiten in verantwortungsbewußten Gemeinschaften, die nur als solche selbständig denkend und zugleich Gerechtigkeit und Freiheit zu erzielen in der Lage sind. Propaganda, Lärm - alles appelliert heute weniger an das kritische Urteilsvermögen, als vielmehr an die Affekte und die konditionierten oder manipulierten pawlowschen Reflexe im Menschen. Politik ist vor diesem Hintergrund nunmehr lediglich "Ordnungselement (...) innerhalb dessen der Mensch sich seiner Vervollkommnung widmen solle." (Kurt Lenk: Wie demokratisch ist der Parlamentarismus, 1972, S. 64) Das aber führt zu einer Entrealisierung, zu politischer Apathie und zu passivem Konformismus aus Mangel an klar artikulierten und artikulierbaren politischen Alternativen sowie zu außengeleiteten, nicht selbst durchdachten Verhaltensmustern.

Was Spengler noch als Erstarrung und Versteinerung zu kennzeichnen pflegte hat sich als eminent nahe liegend für die Gegenwart erwiesen. Der Philosoph Artur Schopenhauer (1788-1860) war überzeugt, daß diese Menschen das eigene Denken vollends durch das äußere Sehen ersetzt haben. Es sind offenbar die gegenwärtigen das Denken der Menschen beeinflussenden sekundären Wirklichkeiten, welche als Ursache erwähnter Tendenzen auszumachen sind. Der Politologe Erich Voegelin (1901-1985) bezeichnete sie als ideologische Verzerrungen, die vor allem dadurch entstünden, daß sich der Mensch dem göttlichen Grund, der Transzendenz seiner Existenz, seiner eigenen und von außen unangefochtenen Wahrnehmungsweise verschloß. Auch Jacob Talmon (1916-1980) betont diese Dialektik des Verlusts eigener, gleichsam philosophischer Gewißheit, was in der totalitären Demokratie, der Begrenzung politisch kontroverser Kommunikation gipfeln könne. (Vgl. Hornung 2000: Politischer Messianismus: Jacob Talmon und die Genesis der totalitären Diktaturen, in: Zeitschrift für Politik, Heft 2, Juni 2000, S. 132-172.)

Jene Formen des inneren Niedergangs der Demokratie sind längst ausgemacht und werden dahingehend erkennbar, daß das, was stets als die starke Mitte gefeiert wurde, dahinschmilzt. Die Volksparteien verlieren an Bedeutung. An ihre Stelle drängt ein apathisches Potential von Nichtwählern (30%) sowie von Protestwählern (10%-15%). Die Hälfte der Bevölkerung ist im Begriff, aus dem politischen System auszusteigen. Es sind diese Umstände von jeher solche, die eine Zeit der Philosophen einleiten, eine Zeit des gründlichen Nachdenkens und Veränderns hin zu solchen Neuerungen, die dem Menschen und nicht einer medial infiltrierten Gestalt von "Mensch" als solchem Rechnung tragen.

Diesen Prozeß kann unverändert nur die Philosophie einleiten, welche sich im Verlauf von 2500 Jahren zu einem monumentalen Gedankengebäude, zu einem beeindruckenden Gedankenpalast entwickelt hat. Große Philosophen übten eine große Ausstrahlung auf das geistige und damit politische Geschehen in der Weltgeschichte aus. Dabei standen deutsche und andere kontinentaleuropäische philosophischen Auffassungen oft quer zu angelsächsischen Überzeugungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigte sich daher die alte geschichtliche Erfahrung, daß Sieger nicht nur ihre militärische, wirtschaftliche und finanzielle Macht ausüben, sondern den Besiegten gerade auch auf kulturellem Gebiet ihren Stempel aufdrückten. Mit Thomas Hobbes gesprochen: Auctoritas non veritas facit legem - Die situativ dominierende Macht und nicht die ewigwährende Wahrheit spricht das "Recht". Das hatte seit 1945 die Verdrängung deutscher und insgesamt großer Philosophietraditionen zur Folge.

Das vorliegende Buch von Werner Kunze erscheint deshalb zur richtigen Zeit. Er nimmt zu allen soeben benannten Aspekten klar Stellung und steigt direkt - seinen eigenen Anspruch im Auftrage der Philosophie verkündend - ins Thema ein: "Die erhabene Philosophie ist und bleibt unerläßlich, um uns vom Getöse der Welt zu lösen, von den uns umgarndenden Manipulationen und der Übermacht des Unwichtigen und Kleinen." (11)

Damit zeigt er sogleich, daß Philosophie ein Nachdenken ist, über das Unmittelbare und scheinbar Selbstverständliche hinaus. Kunze versäumt nicht, gerade die Leistung der Deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts zu verdeutlichen, denn die Deutschen verfolgen seit jeher den Anspruch, den "Alles-Gedanken", das Komplette zu erwägen, um nicht auf Seiten verödeter Dogmatik zu verharren. Für diesen Anspruch und seinen erhabenen Gestus wurden sie gehaßt, verloren im Kampf um geistige Selbstrechtfertigung zwei Kriege und wurden "freiheitlich" gezwungen, ihr geistiges Erbe preiszugeben. Aber das kleine grüne Bäumchen wächst wieder. Die ersten Triebe zeitigen ihre Wirkung. Auch Kunze schreibt dazu in seinem Werk gerade über die philosophieverneinenden Auswirkungen der Nachkriegszeit: "Wenn man sich vor Augen führt, daß diese bis heute geltenden Grundlagen aus einer Mischung von zeitbezogenem Deutschenhaß, Umerziehungsfanatismus, marxistischer Gleichmacherei, falsch oder einseitig interpretiertem Freud, einem geradezu pathologischen Vernichtungswillen gegenüber jeder Art von Tradition bestanden, wird deutlich, daß neue Ideen, die heutigen Problemen Rechnung tragen, dringend erforderlich sind." (36) Wie es aussieht, besteht daher heute erneut dringender Bedarf, uns wieder Rat bei großen Philosophen einzuholen. Das Aufkommen tatsächlich neuen philosophischen Denkens in Deutschland bestätigt diesen Sachverhalt. Erwähnt sei hier lediglich der Sozialphilosoph Johannes Heinrichs (geb. 1942) aus Duisburg.
Wer sich also mit Kunze ernsthaft auf Philosophie einläßt, begibt sich auf ein anfänglich ungeahntes geistiges Abenteuer, Suchtgefahren eingeschlossen.

Viele Menschen werden es wohl kaum glauben, daß die Lektüre philosophischer Bücher nach dieser Eingewöhnungsarbeit mindestens so spannend, aber befriedigender ist als die raffiniert und intelligent geschriebener Kriminalromane oder des Fernsehens. Kunze benennt deshalb zwei Eigenschaften, die ein fürs Philosophieren geeigneter Mensch besitze solle:
"Wer sich mit Philosophie befaßt, muß vor allen Dingen zwei Voraussetzungen mitbringen: zum einen nichts vorschnell als selbstverständlich oder einleuchtend anzusehen, also sich das Staunen zu bewahren. (...) Zur zweiten Vorrausetzung gehört die Fähigkeit, abstrakt zu denken, d.h. vom Einzelnen zum Allgemeinen fortzuschreiten." (26) Von Anfang an hat sich also die Philosophie indes größere Aufgaben gestellt als die eines Seelentrösters oder einer Parteidogmatik. Sie sah ihren Auftrag nicht nur darin, den Menschen zur Erbauung und zur Verkündung wohlfeiler Lebensweisheiten nützlich zu sein, sondern die Großen unter den Philosophen wollten stets zur Welterkenntnis, zur Lösung der Rätsel Mensch und Kosmos beitragen: Lebens- und Weltdeutung also mit dem universellen und einmaligen Instrumentarium des menschlichen Verstandes.

Die Philosophie ist mit Platon die alles umfassende Urwissenschaft, verdeutlicht in der nur durch sie aufgeworfenen Frage: "Warum ist überhaupt etwas?" Zu Recht, ohne die Klärung jener Frage, macht selbst die Naturwissenschaft keinen Sinn.
Kunze durchschreitet vor diesem Hintergrund in seinem Buch alle wesentlichen Epochen der Philosophiegeschichte, weist in ihnen aktuelle Bezugspunkt auf, setzt aber zugleich eigene Schwerpunkte, z.B. die Bedeutung der spezifisch Deutschen Philosophie, des spezifisch Deutschen im Denken der Menschen. Dies läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Anspruch auf Praxisrelevanz des Denkens, grundlegender Skeptizismus gegenüber oberflächlichen Ideologien, Ausgehen vom Ganzen her, "Selbstreflexion, Selbstbezug-im-Fremdbezug" (Johannes Heinrichs) und engagierte Desintegration. So verwundert es auch nicht, daß der Verfasser in seinen gut leserlichen Ausführungen Jürgen Habermas ausspart, war dieser doch in Permanenz Vertreter eines krampfhaften und die Kultur des spezifisch Deutschen verneinenden Denkens, das damit gleichsam nach philosophischen Maßstäben den Anspruch, auch "Denken" genannt zu werden, preisgegeben haben müßte.

Kunze gelingt es mit zahlreichen andersartigen Beispielen im vorliegenden Buch, die praktische Bewandtnis des philosophischen Denkens für die Gegenwart aber auch von der Vergangenheit her darzustellen, um damit dem philosophischen "Gefühl für den tiefen Ethos, die leidenschaftliche Suche nach Wahrheit" in Gänze Rechnung zu tragen.
Warum allerdings bei der heutigen Veroberflächlichung menschlichen, politischen und alltäglichen Bewußtseins weder das Denken von Platon bis Kant wenig praxisrelevante Handlungsperspektiven aufzuzeigen vermag, ist gerade Folge einer Denkfaulheit, die seit vielen Jahren in inneruniversitären Philologie-Diskursen verharrt und damit genauso folgenlos bleibt wie bisher. Das ist deshalb brisant, weil die Widrigkeiten menschlichen Daseins, die Angst und die Unzufriedenheit im Menschen heute zunehmen. Statt Ursachen zu ermitteln, ergeht der wohlstandsgezähmte und das Schild "Auschwitz" demütig vor sich hertragende Durchschnitts-Bundesdeutsche sich in Mitgefühl, im medialen Voyeurismus. Empörung, Erschrecken, Gefühl und Trauer werden als sekundäre Wirklichkeiten mediiert und der Zuschauer erfährt so von dem Elend, dem er zum Glück entronnen ist, um dann Geld zu spenden und anschließend die Ungerechtigkeit, die eigene Schuld zu hegen und zeitweise zu vergessen, um bis zum nächsten Mal den Skandal des eigenen Wohlstands zu betäuben und sich den Affären und Fehden des Familienlebens und der Nachbarschaft zuzuwenden.

Was leidet, ist die originäre staatsbürgerliche, reflektierende - die klassisch deutsche - Denkart. Die im Endeffekt für ein oberflächliches Menschenbewußtsein zweckmäßige und vordringende primäre Nähe zum Elend anderer hingegen hat bereits Arnold Gehlen in seinem Werk "Moral und Hypermoral" (1969) konstatiert und als von den Konformisten der Negation getragenen Moralismus auf die griechische Verfallszeit zurückgehend terminiert. (Vgl. Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral, 1969, S. 88-93.)
Der Philosoph der Gegenwart weiß wie seine alten Leidensgenossen aber seit jeher, daß es damit und von dem frontalen Aufeinanderprallen der Parteien ebensowenig Strukturelles zu erhoffen gibt, wie von einer Demokratie, die infolge des liberalen Parlamentarismus vollständig repräsentativ geworden ist und lediglich eine an sekundären Werten orientierte apathisch-passive Masse verwaltet, die sie selbst finanziell pazifiziert und reproduziert. Demokratien nämlich sind für den Philosophen als Palingenesie zu verstehen, als sich notwendig optimierender Wiederanfang in Permanenz. Dieser sich optimierende Entwicklungscharakter ist ihnen immanent und sollte sich immer wieder neue Ziele setzten. Der Autor des vorliegenden Buches hat sich folgende Ziele gesetzt: Er möchte "Hinweise auf die bedeutenden praktischen Folgen philosophischen Denkens für die Gestaltung von Staat, Politik und Gesellschaft" geben, um "schließlich die Folgen für unsere Zeit zu skizzieren, die sich aus dem erzwungenen Verzicht auf Metaphysik und aus dem Mobbing gegenüber der Philosophie bereits jetzt und in Zukunft verstärkt ergeben." (407) Kunzes Buch will deshalb eine Zeitenwende einleiten, die den Blick gerade auf die Philosophie fallen läßt. Zeitenwende kann hier als das gelten, was der politische Philosoph Edgar J. Jung zu ihr schrieb: "Jede Zeitenwende wird von Krisenerscheinungen begleitet: alte Formen zerfallen, neue wollen werden." (Edgar J. Jung: Die deutsche Staatskrise als Ausdruck der abendländischen Kulturkrise, in: Sinndeutung der deutschen Revolution und andere Schriften, Leipzig, 2007, S. 148)

Nach vollendeter Lektüre erkennt der Leser, daß seinem Autor dies gelungen ist, daß Kunze mit seinem Buch in einer krisengeprägten Zeit neue Formen des Denkens über die neuerliche Relevanz von Philosophie benannt hat. Da aber nach seiner Meinung "das Buch der Geschichte, auch das der Philosophie (...) noch längst nicht vollgeschrieben" (14) ist, dient das vorliegende Buch zwar zur optimalen philosophischen Einstimmung, sollte aber durch die autonome Lektüre eines jeden Einzelnen auf eigene Weise fortgesetzt werden.

Das im Hinblick auf das Aussehen seiner Bücher ästhetisch wenig anspruchsvolle Suhrkamp-Habermas-Taschenbuch-Imperium ist dafür wohl kaum zu empfehlen. Zu dieser Erkenntnis wird der Leser des Buches von Kunze (Grabert-Verlag) aber ohnehin selbst gelangen, kommt dies doch ästhetisch edel in Leinen und Goldgravur daher, wird also zudem abschließend sogar noch den optischen Ansprüchen eines philosophisch lebenden und schauenden Menschen mit seinen Ansprüchen gerecht.
Fazit
Eine geeignete Einführung in das philosophische Denken und sogar noch etwas darüber hinaus.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne

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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 06. Juli 2007

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