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Daniel Jonah Goldhagen: Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne

Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne

von Daniel Jonah Goldhagen
Verlag: Siedler Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-88680-770-3

Preis: 24,80 Euro bei Amazon.de [Stand: 17. April 2024]
Im Jahre des Herrn 1933 landete ein UFO in der Reichshauptstadt Berlin. Ihm entstiegen kleine braune Männchen, die mit ihrer dämonischen Ausstrahlung ein ganzes Volk von Widerstandskämpfern zwölf Jahre lang unterdrücken konnten. 1945 verschwanden dann die kleinen braunen Männchen wieder spurlos ins All, und die entsetzten Widerstandskämpfer bemerkten, daß die kleinen braunen Männchen sechs Millionen Juden umgebracht hatten.
Daß daran wenig stimmt außer der (geschätzten) Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden (und wen die Nazis dafür hielten), sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Die Verfolgung der Juden geschah nicht heimlich, dem Holocaust gingen lange Jahre der öffentlichen Ausgrenzung und Erniedrigung hervor, die vorerst in Judensternvergabe und "Reichskristallnacht" gipfelten. Daß die KZs keine Erholungslager waren, verkündete die gleichgeschaltete NS-Presse seit deren Errichtung. Und auch wenn ein großer Teil der Deutschen, vermutlich die Mehrheit, mit den Nazis und ihren Zielen nur begrenzt oder - seltener - gar nicht sympathisierte, blieb Widerstand selten, vereinzelt und unwirksam.
Wie es dazu kam, daß "Teile der deutschen Eliten und Massen deutscher Normalbürger sich dafür entschieden, das kritische Denken einzustellen und sich stattdessen mit Haut und Haar einer Politik zu verschreiben, die auf Glaube, Hoffnung, Hass und einem sentimentalen Kollektivstolz auf die eigene Rasse und Nationalität basierte" (M. Burleigh), ist nur schwer nachzuvollziehen. Erschwert wird es im deutschen Sprachraum durch ein Tabu: Selten wird ausgesprochen, daß der Antisemitismus, der im Holocaust gipfelte, eine Geschichte hat.

Es ist die Geschichte des Christentums.
"Sie (das 'ganze Volk') schrien aber noch mehr und sagten: Laß ihn kreuzigen! (...) Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Matt. 27, 25)
"Die Juden" hätten Jesus ans Kreuz schlagen lassen, den Messias, den Christus, und sich mit Absicht und im vollen Bewußtsein der Folgen selbst verflucht: Diese Legende ist Teil der christlichen Überlieferung, kaum eine Osterpredigt kommt ohne Zitierung der Passionsgeschichte aus.
Überliefert ist die Geschichte nur in den christlichen Evangelien, die lange Zeit nach den Ereignissen entstanden sind, nicht von Augenzeugen stammen und sich allesamt als historisch höchst unzuverlässig erwiesen haben. Es ist nicht der einzige antisemitische Ausfall im Neuen Testament: 450 Verse mit "eindeutig antijüdischer Polemik" zählte der Bibelkundler Norman A. Beck allein in den vier biblischen Evangelien und der Apostelgeschichte.
Das Christentum hätte das Judentum abgelöst. Wenn sich Juden nicht zum Christentum bekehrten, dann wendeten sie sich vom Sohn Gottes und damit von Gott selbst ab, sie mußten also vom Teufel verführt sein: so die Logik der frühchristlichen Schreiber. Der Schritt vom Vorwurf der Abkehr zum Vorwurf des Gottesmordes war da nicht weit.
Die Juden warteten auf einen Messias, wenn sie ihn nicht anerkannten, behaupteten sie damit, daß das Christentum auf einem Irrtum beruhte: Es ist dieser unausgesprochene Vorwurf, der erklärt, warum die Juden der Kirche über die Jahrtausende ein Dorn im Auge blieben. Man grenzte sie ab, verpflichtete sie per Konzilsbeschluß zum Tragen besonderer Abzeichen, nahm ihnen Sondersteuern ab, entrechtete sie, ließ sie gelegentlich zwangstaufen - all das nur, um sie endlich zur "Umkehr", zur Annahme des "wahren Glaubens" zu bewegen. Das Elend, in dem die meisten Juden lebten, wurde dann als "Beweis" für ihre "Verworfenheit" gedeutet; Elend, das Christen zustieß, als "Beweis" für zu viel Geduld mit den Juden gedeutet.
Es kann da kaum verwundern, daß sich der Volkszorn mit unschöner Regelmäßigkeit an den Juden austobte: 7 Millionen Juden, schätzt man, kamen bei Pogromen von der Spätantike bis 1933 um. Kirchenfürsten lag meist mehr an ihrer Bekehrung, und so wurden die Lynchmorde bedauert, für mehr als ein achselzuckendes Bedauern hat es aber selten gereicht. Im Gegenteil, als in der Neuzeit die Juden überall in Europa allmählich gleiche Staatsbürgerrechte erhielten, waren es die Kirchen, aus deren Reihen der größte Widerstand dagegen kam: Es war der vatikanische Kirchenstaat, in dem die Juden noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in einem Zwangsghetto leben mußten.
"Wenn aber die Wahrheit Gottes durch meine Lüge herrlicher wird zu seinem Preis, warum sollte ich dann noch als ein Sünder gerichtet werden?" (Röm. 3, 7)

Ohne diese jahrtausendelange Hetze der katholischen Kirche hätte der Holocaust nicht stattgefunden, das ist einer der Thesen von Daniel Jonah Goldhagens neuem Buch, "Die katholische Kirche und der Holocaust". Das schmälert nicht die Mitschuld des wortgewaltigen Antisemiten Luthers und seiner Anhänger, und verringert nicht die Schuld der Nazis. Trotzdem: Ohne katholische Antisemitismus kein nationalsozialistischer.
Die These klingt spektakulär, läßt sich aber leicht belegen: Bis in die jüngste Vergangenheit gab es nur im christlichen "Kulturraum" antisemitisch motivierte Übergriffe auf Juden. Weder in Indien noch (bis vor einigen Jahrzehnten) in islamischen Ländern wurden die Juden jemals annähernd in der Art verfolgt wie in den Ländern, in denen die christliche Kirche "segensreich" gewirkt hatte. Dort, wo der nicht-lutherische Protestantismus mit der antisemitischen Tradition brach, wurde und blieb der Antisemitismus eine Randerscheinung - beispielsweise in den USA.

Goldhagens weitere Kernthesen gehen aber über eine reine Holocaust-Vorgeschichten-Schreibung hinaus: Die katholische Kirche habe zudem in den 30ern und 40ern weitestgehend mit den Nazis kollaboriert. Ihre wenigen Proteste seien zaghaft gewesen, verspätet und hätten hauptsächlich auf den Erhalt des eigenen Rufes abgezielt. Nach dem Krieg habe die katholische Kirche einzelne christliche Widerstandskämpfer für den Aufbau eines Mythos vom allgemeinen Widerstand der Kirchen mißbraucht. Sie habe den Antisemitismus in ihren Lehren nur unzureichend bekämpft. Eine moralische, politische oder gar finanzielle Wiedergutmachung habe sie nur unzureichend betrieben.

Goldhagens neuestes Schrift ist kein Geschichtsbuch, und es will auch keines sein. Eine vollständige Geschichte der katholischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus' sei derzeit auch noch nicht möglich: Bis heute verweigert die katholische Kirche Historikern den Zugang zu den entscheidenden Dokumenten aus dieser Zeit. Die erst kürzlich kirchlicherseits eingesetzte Historikerkommission schmiß aus Protest das Handtuch, weil ihr weite Teile des Archivs vorenthalten blieben.
Über die Gründe mag man spekulieren. Das, was an Dokumenten bekannt geworden ist - und das ist auch schon reichlich -, wirft ein denkbar schlechtes Licht auf die Kurie und ihren damaligen Chef, Eugenio Pacelli (als "Pius XII." Papst von 1939-1958). Trotzdem wird derzeit die Seligsprechung dieses Papstes betrieben: Sein Leben und seine Taten sollen also kirchlicherseits als "vorbildlich" anerkannt werden.
"Wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden" (Mk. 16, 16)

Goldhagen greift nicht nur die schiefe Darstellung dieses Papstes an, er geht der gesamten Selbstdarstellung der katholischen Kirche als Opfer und Gegner des Nationalsozialismus' auf den Grund. Diese "Klärung des Verhaltens" macht dabei nur das erste Drittel des Buches aus.
Das Ergebnis ist niederschmetternd: Nicht nur, daß die katholische Kirche lange und erfolgreich mit den diversen faschistischen Regimen in Europa zusammengearbeitet hat, mit Mussolinis Italien, Francos Spanien, Dollfuß' Österreich, dem Ustascha-Kroatien oder Tisos Slowakei. Nicht nur, daß alle führenden Kirchenfürsten die Machtergreifung der Nazis ausdrücklich bejubelt hatten, ihnen vermittels des Reichskonkordats früh internationales Ansehen verliehen und die Verfolgung Andersdenkender hinnahmen.
Obwohl sie gut und detailliert über das Schicksal der Juden informiert war, blieb Protest aus. Antisemitische Ausfälle in Lehre, Predigten und öffentlichen wie quasi-öffentlichen Verlautbarungen waren keine Seltenheit, die antijüdischen Gesetze Mussolinis wurden ausdrücklich begrüßt.
Protest gab es, den allerdings fast ausschließlich zugunsten der eigenen Anhänger und der eigenen Machtbasis. Die Ehe war der Kirche heilig, die geforderte Auflösung von Ehen zwischen Katholiken und Juden stieß daher auf Protest, wie auch die Verfolgung von "Juden", die getauft und damit - nach katholischer Ansicht - keine mehr waren.

Der katholische "Widerstand" gegen den Holocaust entpuppt sich fast durchgehend als bewußt aufgebaute Legende: Was es an Protesten gab, blieb zweideutig, versteckt, unentschlossen. In aller Regel kam er sehr spät, lange nachdem die Niederlage der Achsenmächte abzusehen war. Oft genug lassen sich Hinweise finden, daß man kirchlicherseits hauptsächlich um den eigenen Ruf besorgt war. Selbst vor der Einvernahme von Toten schreckte man nicht zurück: Die Katholikin Edith Stein, die vom Judentum übergetreten war und eben wegen dieser "jüdischen Abstammung" ermordet wurde, wurde zur Märtyrerin umgeschrieben.
Nach dem Ende der Nazi-Diktatur wurde die katholische Kirche allerdings aktiver, verhalf hochrangigen Nazis zur Flucht vor den Alliierten und protestierte energisch gegen die Nürnberger Prozesse.
Goldhagens Darstellung baut auf den Arbeiten anderer Historiker auf, und nur sehr begrenzt direkt auf Quellen. Im Detail wird er ungenau, und eine falsche Bildunterschrift verschaffte der katholischen Kirche dann auch einen Hebel, um die weitere Auslieferung des Buches verbieten zu lassen (was vermutlich auf eine Schwärzung der Stelle in der 2. Auflage hinauslaufen wird). Nicht, daß die Darstellung nicht weitgehend richtig und nachvollziehbar wäre: Für ein Sachbuch reicht es, als fachhistorische Darstellung wäre es ungenügend. Daß sich Goldhagens Kritiker auf eine Handvoll Schnitzer werfen werden, um nicht auf die zentrale Frage der Schuld der Kirche und ihrer Vertreter eingehen zu müssen, war voraussehbar - hier wäre mehr Sorgfalt zu erwarten gewesen.
"Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie herrschen sollte, bringet her und macht sie vor mir nieder" (Lk 19, 27)

Die historisch exakte Darstellung überläßt Goldhagen anderen: Daß die katholische Kirche sich ihrer Vergangenheit endlich stellen solle und diese Forschung unterstützen, ist nachgerade eine seiner wichtigsten Forderungen.
Bevor er aber die Frage einer Wiedergutmachung anspricht, geht es ihm um das Maß der Schuld: Die Kirche hat kollaboriert, einzelne (auch hochrangige) Mitglieder haben selbst beim Holocaust Hand angelegt, aber in wie weit haben sich Papst, Bischöfe, Klerus oder die Mehrheit der Gläubigen schuldig gemacht? Was waren ihre Motive?
Zwang alleine kann es nicht gewesen sein. In ganz Europa gab es Proteste gegen Verfolgungen, auch gegen die von Juden, auch von Kirchen. In mehreren Fällen hatten sie damit Erfolg, so in Dänemark, wo bis Kriegsende kaum ein Jude deportiert wurde. Wo der Widerstand öffentlich und organisiert auftrat, blieben die Konsequenzen für die einzelnen meist gering. Der Vatikanstaat konnte sich aber auch dann nicht zu einer eindeutigen Verurteilung hinreißen lassen, als Rom längst von den Alliierten besetzt worden war.
Natürlich blieb die Angst vor Repressionen: Nicht, daß je ein deutscher Bischof ins KZ geschickt worden wäre. Immer wieder wurden staatlicherseits kirchliche Privilegien beschnitten, auf altangestammte Rechte übergegriffen. Es lag in der Logik der Nazi-Ideologie, keine Macht neben sich zu dulden, und so sollten auch die Kirchen nach einem gewonnenen Weltkrieg als Machtfaktor ausgeschaltet werden. Sofern Kirchenangehörige das erkannt haben sollten, hat es trotzdem nur in wenigen Fällen zu konsequenter Gegnerschaft gegen das Nazi-Regime (statt nur zur NS-Kirchenpolitik) geführt.

Uninformiertheit kann es auch nicht gewesen sein: Wie kaum ein anderer hatte die Kurie Zuträger in allen Ländern Europas, ihre Priester betreuten Wehrmachtssoldaten und SS-Leute, wurden häufig Augenzeuge der Greuel.

Bleibt nur: Unwille. Der kirchenoffizielle Antisemitismus zielte nicht auf die Vernichtung der Juden ab, sondern auf ihre Bekehrung, und darin unterscheidet er sich vom Nationalsozialismus. (Wobei zahlreiche Kleriker zweifellos die Ausrottungsideologie mittrugen). Insbesondere die Verfolgung ihrer eigenen (vom Judentum übergewechselten) Mitglieder nötigte die Kirche immer wieder zu scharfem Protest - der oft genug fruchtete, besonders bei den NS-Marionettenregimen.

Trotzdem schien die Verfolgung derer, die man über lange Jahrhunderte selbst zu Erzfeinden verteufelt hatte, für den Vatikan eher eine lästige Begleiterscheinung gewesen zu sein. Die Abschaffung von Demokratie und "Liberalismus" in Deutschland stand völlig im Einklang mit Kirchenlehren, die beides zu Todsünden erklärt hatten. Der Kampf gegen den "Sittenverfall", auch gegen die laxe Haltung der Weimarer Republik gegenüber Homosexuellen, einte Klerus und Nazipropagandisten. Den Ausschlag dürfte aber der gemeinsame Erzfeind, der atheistische "Bolschewismus", gegeben haben: Der Krieg gegen die UdSSR wurden kirchlicherseits laufend und vorbehaltlos öffentlich gutgehießen.

Damit sind wir bei Goldhagens zentraler These zur Schuld der katholischen Kirche: Ihre Verantwortlichen wußten von Judenverfolgung und Holocaust. Abgesehen von der physischen Vernichtung der Verfolgten hielten sie die meisten Maßnahmen öffentlich für gut, oder distanzierten sich nicht eindeutig davon. Angesichts zweier Übel - des die eigene Machtbasis bedrohenden Sowjetkommunismus' und der Judenverfolgung - entschieden sich die Verantwortlichen bewußt und konsequent, zu letzterem zu schweigen (bis auf verspätete Alibi-Aktionen), um die Bekämpfer der scheinbar größeren Bedrohung zu stützen.
Weniger verklausuliert: Die meisten Verantwortlichen der katholischen Kirche haben aus ideologischer Nähe und Machtinteressen heraus intensiv, wenn auch nicht vorbehaltlos kollaboriert.
"Die Juden aber, die ungläubig blieben, erregten und entrüsteten die Seelen der Heiden wider die Brüder" (Apg. 14, 2)

Wie eine mögliche Wiedergutmachung aussehen könnte, diskutiert Goldhagen im verbliebenen Drittel seines Buches.
Wenig Raum nimmt die materielle Wiedergutmachung ein: es geht ihm nicht um Geld. Es geht ihm um moralische und politische Wiedergutmachung: Um das Eingeständnis der Mitschuld, um den konsequente Widerruf antisemitischer Lehren, und um die Verhinderung künftiger Wiederholung.
Goldhagen betont laufend, daß es nicht die katholische Kirche allein ist, die hier Schuld trägt. Die Mitschuld der protestantischen Kirchen, die mehr aus Gründen des Buchumfangs nur eine Nebenrolle spielen, betont er ausdrücklich. Und er führt positive Beispiele an: Die nordamerikanischen Lutheraner haben sich ausdrücklich von Luthers Antisemitismus distanziert und dessen historische Mitschuld anerkannt. Die evangelische nordelbische Kirche hat im neuen Jahrtausend eine Wanderausstellung gestartet, in der sie ausdrücklich und ausführlich aufarbeitet, in welch erschreckendem Maße sich Pfarrer, Bischöfe und Laien mit den Nazis eingelassen haben. (In diesem Fall: Bis zum Betreiben eines - kurzlebigen - KZs.)
Auf katholischer Seite ist das Zweite Vatikanische Konzil zu nennen: Aus der Lehre wie aus der Liturgie wurden antisemitische Passagen gestrichen (wie die scheinheilige Fürbitte "für die perfiden Juden"). Karol Woytila (Künstlername "Johannes Paul II.") hat es sogar geschafft, als erster (!) Papst die römische Synagoge zu besuchen, und sogar Abbitte zu leisten, ein "mea culpa", für einzelne Kirchenangehörige, die im Übereifer Einzelnen Unschönes angetan hätten.

Und dabei blieb es. Das kirchliche Eigenverständnis, nachdem das Judentum durch das Christentum abgelöst wurde und damit seine Legitimation verloren hat, wurde nicht aufgegeben. Nach wie vor sind antisemitische Vorurteile vor allem unter kirchentreuen Christen virulent, ohne daß es seitens der Kurie eine ernstzunehmende Kraftanstrengung gäbe, daran etwas zu ändern. Nach wie vor bilden die Evangelien mitsamt ihren antisemitischen Ausfällen unkommentiert und ungemildert die Grundlage der Lehre.

Anders als viele oberflächliche Kritiker, die "schlechte" Kirchenpraxis gegen "gute" Bibellehre ausspielen, tippt Goldhagen hier auf den Kern des Problems: Der Antisemitismus ist keine Randerscheinung des Christentums, er ist kaum trennbar mit seinen zentralen Lehren und Schriften verbunden.
Goldhagen bleibt hier optimistisch: Wenn es selbst Staaten wie dem offiziellen Deutschland gelungen ist, sich konsequent und rigoros vom Antisemitismus zu trennen, sollte auch die katholische Kirche die moralische Kraft dazu aufbringen - so, wie es viele fortschrittliche Katholiken für sich schon geschafft haben.
"Und es waren Pfaffen auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Pfründe" (frei nach Lk. 2,8)

Mit Verlaub, nicht nur, daß Goldhagen hier die bundesdeutschen Köche und Möllemänner samt des von ihnen anvisierten Klientels ausgesprochen positiv sieht: Er sieht sich auch die katholische Kirche ausgesprochen optimistisch. Und er überschätzt den Einfluß, den selbst gutwillige Kirchenführer nehmen könnten.
Was das Christentum so reizvoll macht, sind zwei zentrale Lehren: Zum einen ist das die simple und psychologisch ungemein ansprechende Unterteilung der Welt in ein gutes "Wir" und in ein böses "Die anderen". Zum anderen gibt es das Versprechen der Unsterblichkeit für die "Wir"-Gruppe.
Die Beweislage für letzteres ist ziemlich dünn. Die ganzen Evangelien sind, theologischer Lehrmeinung zufolge, nur entstanden, weil ein Frühchrist nach dem anderen starb, ohne daß er, wie versprochen, gleich wiederauferstand. Daß das Weltgericht, wie in den Evangelien versprochen, nicht binnen weniger Jahre nach des Messias Abgang folgte, säht immer wieder (allzu berechtigte) Zweifel an der Wahrheit der ganzen Geschichte. Daß der Glaube von wohlinformierten Nicht-Heiden nicht geteilt wird, trägt auch nicht gerade zur Gewißheit bei.
Das ist insofern ein Problem, als daß das Christentum - viel stärker als etwa das Judentum - das (Seelen-)Heil weniger von den guten Taten als vom richtigen Glauben abhängig macht. Wer zweifelt, verwirkt vielleicht seine Eintrittskarte ins Paradies.

Seine eigenen Zweifel auf die offenkundig Ungläubigen zu projizieren und diese damit zu verteufeln, liegt nahe. Die Juden haben das über lange Jahrtausende immer wieder erfahren müssen. Insgesamt stellen sie aber nur einen kleinen Bruchteil der im Namen des Christentums Ermordeten dar, geschätzte 7 von geschätzten 120 Millionen.
Seit das Christentum unter Konstantin Staatsreligion wurde, stellten Übereifrige laufend ihren Glauben unter Beweis, indem sie ohnehin Verdammten schon zu Lebzeiten einen Vorgeschmack auf die Hölle lieferten, die ihnen ohnehin auf ewig drohen würde. So zahlreich die verbrannten Hexen, die gemordeten Schwulen, Ehebrecherinnen und anderen Sexual-"Sünder" auch sind - vermutlich die größte Opfergruppe des Christentums waren Christen, die die jeweils offizielle Lehre infragestellten: Häretiker, Ketzer, je nach Landstrich Papsttreue oder Papstuntreue.
Bis heute verstehen sich die Kirchen als Mittler einer ganz besonderen Lehre, deren Versprechungen deshalb glaubwürdig sind, weil den Texten eine besondere Autorität zukommt. Eine Relativierung dieses Anspruchs machen bestenfalls einige Fachtheologen, kaum aber die meisten Kirchenoberen oder gar die Massen der Gläubigen mit: Der moderne christliche Fundamentalismus mit seinem buchstäblichen Bibelverständnis ist die Antwort auf eine moderne Theologie, die zumindest streckenweise die Bibel und ihre Aussagen relativiert. Der grassierende Abfall vom kirchenoffiziellen Christentum, der meist auf eine Zuwendung zu anderen Heilslehren hinausläuft, eine andere.
In letzter Konsequenz fordert Goldhagen aber genau das: Nicht eine Veränderung des Bibelwortlautes, aber die Erklärung, daß der letztlich für die Gläubigen nicht verbindlich ist. Daß er das für möglich und die katholischen Kirchenoberen dazu für willens hält, spricht für seinen guten Willen gegenüber der katholischen Kirche. Für realistisch halte ich es nicht.
"Die Menschen müssen Rechenschaft geben am Tage des Gerichts von einem jeglichen nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben" (Matt. 12, 36)

Goldhagen begreift den Holocaust als ein historisches Ereignis, das nicht mehr und nicht weniger erklärbar ist als andere historische Ereignisse auch: Es gab Ursachen, es gab Beteiligte, es gab Umstände, es gab Motive, und die kann man nicht weniger offenlegen als in anderen Fällen auch.
Sofern es um die reine Geschichtsschreibung geht, überläßt Goldhagen die Arbeit anderen, und er verläßt sich auf ihre Ergebnisse. Das macht ihn angreifbar, und die deutschen Feuilletons haben genüßlich auch die ein oder zwei nebensächlichen Fehler zerpflückt, derer sie habhaft wurden. Im ganzen bleibt Goldhagen unnötig ungenau und oberflächlich, und das mindert den Wert seiner Arbeit ungemein.

Die eigentliche "Untersuchung über Schuld und Sühne" (so der Buchuntertitel) nimmt dagegen viel Raum ein und bleibt an der Oberfläche. Korrekterweise beschreibt er die katholische Kirche als politische Institution, die konsequenterweise (auch) von Machtinteressen geleitet wird. Zu wenig Raum nimmt die Frage ein, worauf diese Macht beruht, und ob angesichts des offiziellen Selbstverständnisses, nur der Vermittler einer göttlich offenbarten (und damit: unhinterfragbaren) Wahrheit zu sein, ernsthafte Reformen in der Lehre überhaupt möglich, geschweige denn: erwünscht sind.
Goldhagens Moralverständnis bleibt zudem unreflektiert, ziemlich unkritisch werden strafrechtliche und fürs tagtägliche Miteinander anerkannte moralische Maßstäbe auf Organisationen und politische Gebilde übertragen. Daß nicht einzelne Verfolgte und ihre Angehörigen, sondern auch jüdische Organisationen und der Staat Israel Anspruch auf Wiedergutmachung haben, ist zumindest nicht so offenkundig und unstrittig, wie Goldhagen es darstellt.
"Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel" (Matt. 5, 37)

Etwas oberflächlich, ziemlich optimistisch: Goldhagens Buch wäre erheblich besser gewesen, wenn er sich auf die Darstellung der Fakten beschränkt hätte und die Urteilsbildung dem Leser überlassen hätte. Ungenauigkeiten und mangelnde Quellennachweise sind Dinge, die einem Geisteswissenschaftler nicht unterkommen sollten. Die Fixierung auf die katholische Kirche, statt eine konsequente Betrachtung aller deutschen Kirchen, macht es "Kritikern" einfach, ihn (fälschlich) als Antikatholiken zu verunglimpfen.
Dazu wirkt die Schreibe pedantisch, der Ton ist versöhnlich, das Buch macht streckenweise einen geradezu erbaulichen Eindruck. Für polemische (und treffende) Zuspitzungen reicht es leider nur da, wo Goldhagen mit einigen ... eigenwilligen Kritikern seines ersten Buches abrechnet.
Fazit
Mit Konrad Riggenmanns "Kruzifix und Holocaust" gibt es ein Buch auf dem deutschen Markt, das gründlicher und umfassender in der Darstellung ist, die ganze Geschichte des Antisemitismus beleuchtet und sich auch noch erheblich besser liest.
Goldhagens zweites Buch ist da nur zweite Wahl.
5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne

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Vorgeschlagen von Andreas P. Rauch [Profil]
veröffentlicht am 19. Januar 2003

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