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Joachim Zeller, Jürgen Zimmerer: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika

Völkermord in Deutsch-Südwestafrika

von Joachim Zeller, Jürgen Zimmerer
Verlag: Christoph Links Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-86153-303-1

Preis: 20,42 Euro bei Amazon.de [Stand: 24. April 2024]
Der vorliegende, sehr gut illustrierte Sammelband von Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller bietet einen hervorragenden Einstieg, will man sich näher mit dem "ersten Genozid der deutschen Geschichte" auseinandersetzen. Die beiden Herausgeber sowie 14 weitere AutorInnen bieten mit 18 Aufsätzen einen guten Überblick über die Vorgeschichte, den Verlauf und die Folgen des Krieges gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. Thematisch gegliedert ist das Werk nach Beiträgen zur Vorkriegszeit, dem Kolonialkrieg 1904-1908 sowie der Nachkriegszeit. Besonders verdienstvoll ist das Bemühen der Herausgeber mit einem vierten Themenbereich neben der deutschen auch die afrikanische Perspektive in den Blick zu nehmen.

Im einleitenden Aufsatz beschreibt Gesine Krüger den wirtschaftlichen Aufschwung innerhalb der Herero-Gesellschaft im 19. Jahrhundert und den damit verbundenen sozialen Wandel. Die Darstellung der zahlreichen wirtschaftlichen und diplomatischen Kontakte der Herero-Gesellschaft mit anderen afrikanischen Gesellschaften sowie der Nachweis, dass die Herero moderne Strategien der Herrschaftssicherung verfolgten dienen Krüger, die weit verbreitete These der "Geschichtslosigkeit" afrikanischer Gemeinwesen zu widerlegen.

Der Ansicht, Deutsch-Südwestafrika sei ein kolonialer Musterstaat gewesen, widerspricht Jürgen Zimmerer im zweiten Aufsatz. Die Diskussion um die "Mischehenfrage" sowie die sogenannten "Eingeborenenverordnungen" werden vom Autor herangezogen, um zu verdeutlichen, dass die Kolonie zwar in eine an vormodernen Vorstellungen orientierte "rassische Privilegiengesellschaft" transformiert werden sollte, der Staat die indigene Bevölkerung aber zu keiner Zeit zu bloßen Objekten administrativer Entscheidungen herabsetzen konnte.

Der zweite Themenbereich ist dem Kolonialkrieg 1904-1908 gewidmet und wird durch einen weiteren Beitrag Zimmerers eingeleitet. Detailliert werden Ursachen und Verlauf des Krieges beschrieben. Befehle und Aussagen verantwortlicher Offiziere und Politiker sowie der Verweis auf die Kriegstaktik und die Bedingungen in den von Deutschen errichteten Konzentrationslagern belegen die These, der Krieg gegen die Herero sei der erste deutsche Vernichtungskrieg gewesen - der Heranziehung der UN-Völkermord-Konvention durch den Autor hätte es dazu gar nicht mehr bedurft. Kritisch zu hinterfragen ist der Verweis auf die Bedeutung des Völkermordes an den Herero und Nama als Vorgeschichte des Holocaust. Zwar ist der Hinweis berechtigt, dass angesichts der kurzen Zeitspanne zwischen "dem ersten und dem zweiten von Deutschen verübten Völkermord" das "Fehlen eines Zusammenhanges erstaunlicher als dessen Vorhandensein" sei. Betrachtet man jedoch die Praxis anderer Kolonialmächte, etwa Belgiens im Kongo, kommt - ohne die Verbrechen in Deutsch-Südwestafrika relativieren zu wollen - der Verdacht einer allzu teleologischen Interpretation auf.

Aufschlussreich ist Merdarus Brehls Aufsatz über die "Vernichtung der Herero und Nama in der deutschen (Populär-)Literatur". Anhand der Flut zeitgenössischer Publikationen, deren Auflage und Verbreitungsgrad weist Brehl zum einen nach, dass der Krieg kein randständiges Thema, sondern geradezu ein "Diskursereignis" gewesen ist. Zum anderen gelingt es ihm deutlich zu machen, dass die absichtsvolle Vernichtung der Herero und Nama in der zeitgenössischen Diskussion weder bestritten noch bagatellisiert wurde, sondern im Gegenteil als "sinnvoller und gerechtfertigter Beitrag im Vollzug [...] eines allgemeinen Prozesses der Entwicklung einer Weltkultur gedeutet" wurde.

In zwei gesonderten Beiträgen schildern Joachim Zeller und Caspar W. Erichsen die Geschichte und Funktion der Konzentrationslager in Swakopmund und auf der Haifischinsel, in denen unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder interniert wurden. Die Autoren weisen nach, dass die Behandlung der Kriegsgefangenen angesichts chronischer Mangelernährung, völlig unzureichender medizinischer Versorgung und der extremen Bedingungen der Zwangsarbeit als eine Fortführung der Vernichtungspolitik bezeichnet werden muss.

Der dritte Themenkomplex versammelt Aufsätze, die sich mit der afrikanischen Perspektive befassen. Einleitend zeichnet Jan Bart Gewald die soziokulturelle Entwicklung der Herero in den Vorkriegsjahren und insbesondere den Aufstieg und die Herrschaftspraxis Samuel Mahareros nach. Geschildert wird zudem der Kriegsverlauf und die Folgen der Kolonisierung. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch Gewalds Interpretation der Kriegsursache, die er im Verfolgungswahn deutscher Siedler sowie im betrügerischen und unüberlegten Verhalten eines deutschen Leutnants sieht. Es ist davon auszugehen, dass das Fehlverhalten eines deutschen Offiziers, wenn überhaupt Ausschlag gebend, lediglich der Auslöser, nicht jedoch der Grund des Krieges war. Diesen sollte man tatsächlich in der immer drängenderen Landfrage, der Problematik eines dualen Rechtssystems für Indigene und Deutsche, einer rücksichtsloseren Eintreibung von Schulden durch deutsche Händler und wohl nicht zuletzt auch in den ökonomischen und sozialen Folgen der 1896 ausgebrochenen verheerenden Rinderpest suchen. Verdienstvoll ist jedoch der Hinweis auf den Reorganisationsprozess innerhalb der Herero-Gesellschaft, der die weitverbreitete Vorstellung, der Krieg habe mit der völligen Vernichtung der Herero-Gesellschaft geendet, widerlegt. Tatsächlich war die Position der Herero zum Zeitpunkt der südafrikanischen Invasion 1915 wieder derart gestärkt, dass sich die neue Verwaltung gezwungen sah, mit ihnen in Verhandlungen zu treten.

Aspekte des Schicksals von Frauen im Kolonialkrieg schildert Gesine Krüger in einem weiteren Beitrag. Insbesondere wird untersucht, inwieweit Frauen "als Bestien und Opfer im Mittelpunkt von Phantasien, Zuschreibungen und Recht-fertigungsstrategien des Militärs, einzelner Soldaten und in der Öffentlichkeit" standen. Besonderen Raum nimmt hier die Analyse die Wirkungsweise der deutschen Kolonialpropaganda ein, in der Herero-Frauen fast ausschließlich als "rachedurstige und entfesselte Bestien" erschienen, während gleichzeitig und zum Teil wider besseren Wissens immer wieder Gerüchte über ermordete und missbrauchte weiße Frauen lanciert wurden. Aber auch die afrikanische Perspektive wird von Krüger beleuchtet, indem sie Texte der oralen Literatur über die Flucht der Herero durch die Omaheke analysiert.

Der abschließende Themenbereich über die Nachkriegszeit wird durch einen weiteren Artikel Jan-Bart Gewalds eingeleitet, der die Bedeutung der Beerdigung Samuel Mahareros 1923 für die Reorganisation der Herero schildert.

Joachim Zeller geht in einem zweiten Beitrag auf die kolonialdeutsche Erinnerungskultur ein, wobei er insbesondere die Bedeutung und Funktion der in Deutschland und Namibia errichteten Krieger- und Kolonialdenkmäler herausarbeitet. Zwar mag man seinem Urteil beistimmen, dass die Vernichtung der Herero und Nama nach 1945 in beiden deutschen Staaten völlig in Vergessenheit geriet. Dass aber auch die Geschichtsschreibung "ihr kaum Aufmerksamkeit [widmete]", mag vielleicht für die unmittelbare Nachkriegszeit gelten, ist aber spätestens mit dem Erscheinen der beiden Standardwerke von Drechsler und Bley Ende der sechziger Jahre nicht mehr der Fall.

Im abschließenden Beitrag gibt Andreas Eckert zunächst einen Überblick über den Forschungsstand und hinterfragt kritisch die Namibia-Präferenz der aktuellen Forschung. Eckert verneint die These eines "kolonialen Sonderweges" Deutschlands mit dem Verweis auf das "generelle, sich aus enttäuschten Allmachtsphantasien und Ängsten speisende und immer wieder entladende Gewaltpotential von kolonialen Siedlerschaften". Auch der Frage nach Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus geht Eckert nach. Zwar stünde die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik mit ihren zentralen Begriffen "Rasse" und "Raum" in der Traditionslinie des europäischen Kolonialismus und in den Kolonialkriegen sei auch erstmals "das letzte Tabu", nämlich die gezielte Vernichtung anderer Ethnien, gebrochen worden. Mit Verweis auf die "zu komplex[e] und eklektizistisch[e]" Politik und Ideologie des Nationalsozialismus verneint der Autor jedoch die Möglichkeit einer gradlinigen Zurückführung der nationalsozialistischen Verbrechen auf den deutschen Kolonialismus. Berechtigt ist die Forderung des Autors, dass die vergleichende Genozidforschung noch systematischer mit der Erforschung des Kolonialismus verknüpft werden muss.
Fazit
An dem insgesamt empfehlenswerten Band sind noch weitere Autoren beteiligt (u. a. Ulrich van der Heyden, der über die "Hottentottenwahlen" 1907 informiert). Besonders hervorzuheben ist, dass der gängigen eurozentristischen Sichtweise die afrikanische Perspektive entgegengesetzt wird und dem Leser so deutlich wird, dass die deutsche Kolonialmacht zum einen nicht gegen "vorgeschichtliche[...] Stämme" kämpfte, zum anderen aber nach Ende des Vernichtungskrieges in der Kolonie auch nicht die "Ruhe des Friedhofs" (Drechsler) herrschte. Den Herausgebern ist es gelungen, eine höchst lesenswerte Aufsatzsammlung zusammenzustellen, die zum einen den aktuellen Forschungsstand wiederspiegelt, es zum anderen aber auch Laien ermöglicht, sich über ein Thema zu informieren, das "zweifelsohne zu den dunkelsten Kapiteln des europäischen Kolonialismus" gehört. Es bleibt die (zynische) Hoffnung, dass sich anlässlich des hundertjährigen Jahrestages des Kriegsausbruchs eine breitere Öffentlichkeit eines Themas kritisch annimmt, das "im kollektiven Bewusstsein der Deutschen weitgehend vergessen ist, [...] für Namibia [jedoch] bis heute ein nationales Trauma darstellt."
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Vorgeschlagen von florianbeer [Profil]
veröffentlicht am 28. März 2005

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